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Dear Daniel,

nach dreijähriger Suche haben mein Partner und ich vergangenes Jahr endlich ein Häuschen mit Garten gefunden, in das wir demnächst einziehen werden. Es liegt hübsch eingebettet in einer historischen Reihenhaussiedlung aus den Zwanzigerjahren, abseits vom Großstadttrubel und doch gut angebunden. Für meinen Partner war es immer klar, dass er mit seiner Familie später gerne in einem eigenen Haus leben möchte. Einen solchen Traum hatte ich nie. Ich bin immer viel umgezogen mit meiner Familie und unser Leben hatte etwas Nomadenhaftes. Die vergangenen 20 Jahre habe ich in verschiedenen Stadtvierteln gelebt, in denen es Menschen aus aller Welt gibt. Obwohl ich unsere Entscheidung, das Haus zu kaufen, keinesfalls bereue, beschleichen mich nun Zweifel, ob ich dort glücklich werde. Ich habe Angst, dass ich das Stadtleben vor der Haustür vermissen und mich einsam fühlen werde.

Ich frage mich, woher diese Zweifel rühren: Ist es die Angst vor dem Endgültigen, davor, dass dies nun bis ans Lebensende unser Wohnsitz werden könnte? Repräsentiert dieses Reihenhausleben das Älterwerden, sagt es, dass meine Jugend nun endgültig vorbei ist? (Wobei das, genaugenommen, schon länger der Fall ist.) Oder handelt es sich wirklich um die Sorge, dass dieses vermeintlich spießige Leben nicht zu mir passt? Was denkst du darüber, Daniel? Glaubst du, dass ich auch dort mein Glück finden kann?

Liebe Grüße, S. (ein Stadtmensch)

Liebe stadtverbundene S.,

danke für deinen Brief. Ich denke schon mehrere Tage über ihn nach und habe das Gefühl, dir dazu noch ganz viele Fragen stellen zu wollen. Es tut mir so leid, dass du diesen für dich so großen und schönen Schritt mit gemischten Gefühlen gehen musst. Das klingt nach einer schweren Aufgabe. Zum anderen bin ich mir nicht sicher, wie überzeugend ich deine Gründe für deine Zweifel finde. Ich frage mich, mit anderen Worten, ob die vermeintlichen Erklärungen, die du dir selbst gibst, nicht die eigentlichen Erklärungen verdecken, die Dinge, die du dir erst einmal nicht anschauen möchtest oder kannst. Aber das ist nur eine Vermutung.

Zunächst einmal möchte ich dir zum neuen Haus gratulieren. Ich selbst habe wie dein Partner auch immer von einer kleinen Familie und einem Leben in einem gut am Großstadtalltag angebundenen Haus mit Garten geträumt. Das tun sicherlich viele Menschen. Und ich nehme an, dass zumindest ein Teil von dir ebenfalls Gefallen an dieser Vorstellung findet, auch wenn du, wie du schreibst, einen solchen Traum nie hattest. Nicht, weil das ein Lebensentwurf ist, der gesellschaftlich gerne als eines der großen Glücksversprechen an uns herangetragen wird – es ist immer gut, solche Glücksversprechen zu hinterfragen – sondern, weil du schon so viel für getan hast. Wahrscheinlich hast du eine Familie gegründet und in Zeiten eines überhitzten Immobilienmarkts nach einem ein Haus gesucht, weil ein Teil von dir sich diese Art von Leben auch sehr wünscht. Wäre das nicht der Fall, hättest du die dafür nötige Energie sicherlich in andere Bereiche deines Lebens investiert. Meistens sind solche Wünsche nicht eindeutig, vor allem nicht in einem patriarchalen System, das bestimmte Lebensentwürfe für uns vorsieht. Vor allem, wenn sich diese Wünsche zu erfüllen drohen, ist das häufig eine ambivalente Erfahrung. Wir stellen uns die Erfüllung solcher Wünsche immer als etwas Positives vor, aber oft genug macht es uns Angst und lässt uns „und was jetzt?“ fragen. Ich finde es so wichtig und richtig, dass du dich dieser Ambivalenz stellst und deine Zweifel zur Sprache bringst. Es ist wichtig, nicht einfach in die Falle pastellfarbener gesellschaftlicher Versprechen zu laufen.

In deinem Brief scheint es nicht nur um Zweifel am Vorortleben, sondern auch an deinem Familienleben zu gehen, um die Frage, ob du es noch wirklich möchtest. Auch das finde ich begrüßenswert, obwohl das zunächst absurd klingen mag. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, ob das Leben, das wir für uns gebaut haben, noch das Richtige für uns ist: Engt es mich zu sehr ein? Hält es noch genug Entwicklungsmöglichkeiten für mich bereit? Passt es noch zu mir? Wenn wir ein Leben in Augenhöhe mit uns selbst führen wollen, brauchen wir genau diese Art von Selbstbefragung – vor allem in Schwellenphasen, wie du sie beschreibst, Phasen, in denen ein Teil des Lebens endet und der neue Teil noch nicht richtig begonnen hat. Stell dich diesen Fragen und versuch, sie ehrlich für dich zu beantworten! Oft schämen wir uns für solche Zweifel, weil es sich anfühlt, als würden wir damit auch unsere Gefühle für unsere Partnerinnen und Partner, Kinder und Angehörige in Frage stellen. In Wahrheit sind sie ein Grundbaustein guter Beziehungen. Wir entscheiden uns nicht einmal für ein Art Leben und führen dieses Leben dann für alle Ewigkeit. Wir entscheiden uns immer wieder, müssen uns immer wieder neu entscheiden. Nur so können wir uns entwickeln und stabile Beziehungen aufbauen. Alles andere würde darauf hinauslaufen, dass wir uns in selbstgebaute Gefängnisse begeben. Und es verspricht so viel Gutes für dich und deine Familie, dass du das nicht tust.

Zu Beginn des Briefes habe ich gesagt, dass ich dir gerne noch mehr Fragen stellen würde. Und das möchte ich jetzt einfach tun, in der Hoffnung, dass du etwas mit diesen Fragen anfangen kannst. Die wichtigste zuerst: Warum ist deine Familie so oft umgezogen, warum hat sie, wie du schreibst, so ein Nomadenleben geführt? Kamen deine Eltern aus zerrütteten Familien und konnten selbst nur schwer Bindungen eingehen? Dann könnte es auch für dich schwierig sein, eine Familie zu gründen, weil ein Teil von dir glaubt, dass auch du das nicht darfst. Oder hatte das Nomadenleben politische, historische oder kulturelle Gründe? Musste deine Familie flüchten oder ist sie Opfer historischer Gewalt geworden? Ich frage das, weil wir häufig ohne es zu wissen, die Konflikte unserer Eltern und Großeltern auch in unseren eigenen Leben ausleben, weil ihre Erfahrungen und Traumata, ihre Wünsche, ihr Schweigen und ihre uneingestandenen Wahrheiten in unser Blut übergegangen sind. Vielleicht spürst du sogar so etwas wie die Schuld der Überlebenden oder hast das Gefühl, dass du deine Angehörigen verrätst, weil du ein besseres Leben als sie führst. Wenn ja, könnten deine Zweifel, dich in dieser bestimmten Stadt, in diesem bestimmten Land, auch daher rühren. Aber das sind alles nur Vermutungen, Anleitungen zum Weiterfragen.

Und schließlich, und diese Frage ist mit all diesen und anderen Fragen verbunden: Was versprichst du dir von dem provisorischen Leben, das du gerade zu führen scheinst? Davon, dass ein Teil von dir die schon getroffene Entscheidung des Umzugs weiter aufschieben möchte? Provisorische Leben sind so verführerisch, weil sie einen psychisch für den Moment entlasten. Doch die aufgeschobenen Entscheidungen und uneingestandenen Ängste verschwinden nicht so einfach. Irgendwann klopfen sie nachts mit aller Gewalt an die Tür. Solltest du Angst davor haben, mit deinem neuen Leben zu scheitern, ist das Aufschieben dieses Lebens der sicherste Weg, genau das zu tun. Wie dramatisch wäre es wirklich, solltest du in ein paar Jahren feststellen, dass du dir doch ein anderes Leben wünschst, an einem urbaner geprägten Ort, vielleicht sogar in einer anderen Beziehungskonstellation? Sollte das irgendwann tatsächlich passieren – und ich glaube, dass du mit der Selbstbefragung in deinem Brief die besten Voraussetzungen dafür legst, ein authentisches, stabiles Leben zu bauen, in dem das nicht eintritt – wäre das sicherlich ungeheuer tragisch. Aber es wäre auch eine Situation, mit der du umgehen, eine Situation, die du bewältigen kannst.

Ich weiß nicht, ob dir diese Antwort auf deinen Brief weiterhilft. Ich habe den Eindruck, dass du mit deinen Zweifeln leben lernen musst, nicht zuletzt, weil Zweifel immer etwas Gutes haben. Das fühlt sich vielleicht erst einmal nicht wie eine richtige Lösung an. Doch in Zweifeln ist nicht nur Angst angelegt, sondern immer auch Zuversicht, nur können wir das häufig nicht erkennen. Unsere Fantasie ist gezwungenermaßen begrenzt. Wir können nicht wissen, wie wir uns in einigen Monaten fühlen werden, können nicht ahnen, was uns in einigen Jahren zustößt, was mit der Welt, mit uns und unseren Liebsten geschieht. Einige Menschen verzweifeln daran und planen so lange ein perfektes Leben, dass sie vergessen, überhaupt ein Leben zu führen. Doch wenn man die Kontrolle ein Stück abgibt, öffnen wir uns auch der Möglichkeit für etwas Unvorhergesehenes. Vielleicht kannst du dir einfach noch nicht vorstellen, wie schön, herausfordernd, erfüllend, schwierig, lustig, traurig und gut dein Leben in eurem neuen Haus sein wird. Kannst dir einfach noch nicht vorstellen, dass es überhaupt nicht spießig sein muss, wenn du es nicht möchtest. Dass es dir gelingen könnte, beides zu genießen, das Urbane und das Zurückgezogene. Vielleicht wird dein zukünftiges Leben so viel schöner, als du imstande bist, es dir heute auszumalen. Und sollte es nicht so sein, wirst du, wie gesagt, auch damit umgehen können. Aber zunächst einmal hast so viele wunderbare Gründe für Zuversicht – gerade weil du dich deinen Fragen und Zweifeln stellst.

Ich wünsche dir von ganzem Herzen alles Gute auf deinem Weg. Du bist nicht allein.

Alles Liebe, Daniel

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