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Die perfekte Tochter

Seit Sophie vier ist, kämpft ihre Mutter mit dem Tod. Sie wurde zur perfekten Tochter, die immer funktionierte und auf Ausgleich und Unterstützung bedacht war. Doch vierzig Jahre später geht das nicht mehr. Wie kann sie sich aus diesem Korsett befreien? Und darf sie das?   

Dear Daniel,

ich bin 44 und seit ich vier oder fünf Jahre alt bin, ist meine Mutter krank. Nach einer lebensbedrohlichen Viruserkrankung hat sie sich nie wieder richtig erholt. Eine Folgeerkrankung löste die nächste ab. Im Laufe meiner Kindheit und Jugend wurde es mit vielen Aufs und Abs immer schlimmer. Ich kenne sie fast nur im Bett liegend mit einer Sauerstoffbrille in der Nase und mühevoll für eine Mahlzeit aufstehend. Im besten Fall macht sie mal einen kurzen Ausflug in die Stadt. Mit den tödlichen Bedrohungen durch die körperlichen Leiden gingen immer auch Depressionen und suizidalen Tendenzen einher.

Vor Kurzem hatte sie erneut eine sehr riskante Operation, die bei meinem Vater, meinem Bruder und mir, alte, verschüttete Erlebnisse und Emotionen aufwühlte. Seitdem bin ich sauer auf meine Mutter, obwohl sie mich gerade dringend braucht. Sie braucht mich aber immer dringend, seit ich denken kann und lebensbedrohliche Situationen gibt es genauso lange. Und das hat sie uns durch zusätzliche Manipulationen auch immer deutlich spüren lassen. Ich habe mich als Kind nie getraut, Probleme zu machen, habe nie rebelliert und immer funktioniert und war in unserer Familie immer auf Ausgleich bedacht.

In meinem Erwachsenenleben bin ich sehr glücklich und führe ein freies und selbstbestimmtes Leben in einer tollen kleinen Familie. Mit meiner Mutter stehe ich im dauernden Kontakt, empfinde mich in der Kommunikation entgegen meinem sonstigen Wesen aber als kühl und distanziert. Das bereitet mir ein schlechtes Gewissen. Denn ich möchte meiner Mutter keine Schuld geben. Sie ist eben krank.

Durch Arbeit an mir selbst bin ich auf dem Weg, an einen Punkt zu kommen, an dem ich gut auf mich achten kann und lerne, für mich gesunde Grenzen zu ziehen und das Geschehene zu integrieren.

Dennoch kommt manchmal der Gedanke auf, dass meine Mutter vielleicht davon wissen sollte, wie wir uns als Kinder gefühlt haben. Dann kommt mir aber gleich wieder die Frage, was für ein Sinn das haben soll und ob ich ihr mit meiner Offenheit nicht schaden würde. Kann ich Frieden in mir finden oder braucht es dafür das Gespräch mit meiner Mutter?

P.S.: Und wenn ja - wie bereite ich mich darauf vor?

P.P.S.: Und wie fange ich bloß an?

Deine (in dieser Sache) verwirrte Sophie

Liebe Sophie,

danke für deinen Brief. Es tut mir sehr leid, was du alles erleben musstest und musst. Während ich deine Zeilen las, sank mein Herz regelrecht. Einige Menschen haben es schwerer als andere Menschen, das gehört zu den Ungerechtigkeiten des Lebens, und demzufolge, was du beschreibst, gehörst zu den Menschen, die es schwerer hatten. Es muss schlimm gewesen sein, mit der ständigen Drohung aufzuwachsen, dass deine Mutter bald stirbt, damit, dich ihretwegen und dem Wohle deiner Familie wegen selbst zu verleugnen und aufzuopfern und trotz allem brav zu funktionieren. Das ist eine traumatische Kindheit. Leider tendieren Familiensysteme wie die, die du beschreibst dazu, diese Traumata nicht anzuerkennen. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass deine Mutter, dein Vater und dein Bruder nicht sehen, dass auch du es schwer hattest, obwohl du immer funktioniert hast. Deshalb möchte ich es dir sagen: Du hattest es wahnsinnig schwer. Und ich hoffe so sehr, dass du dir das eingestehen kannst. Niemand sollte eine Kindheit mit solchen Schicksalsschlägen und solch herausfordernden psychischen Dynamiken durchmachen.

Ich bin kein Psychologe und das ist nur ein Brief, aber ich habe das Gefühl, dass du deine Erfahrungen weniger bearbeitet hast, als du denkst. Gerade, wenn wir es gelernt haben, auch in unmöglichen Situationen zu funktionieren und das, was wir eigentlich empfinden, wegzustecken, tendieren wir dazu, auch in der Aufarbeitung zu „funktionieren“. Wir kennen das Ziel – etwa das glückliche Leben mit deiner eigenen kleinen Familie, wie du schreibst – und machen dann alles, um das Ziel zu erreichen, ohne nach links und rechts zu schauen und uns die nötige Zeit dafür zu nehmen. Ich sage das auch, weil du überrascht davon scheinst, dass in der erneut lebensbedrohlichen Gesundheitssituation deiner Mutter, Erlebnisse von früher hochkommen. Und weil du überrascht davon scheinst, dass du dich ihr gegenüber kühl und distanziert verhältst.

Ich habe oft den Eindruck, dass in Situationen wie diesen, die Aufarbeitung darin besteht, all die Gefühle, die man sich als Kind verwehrt hat, zuzustehen und sie zu durchleben – die Angst zu durchleben, allein zurückzubleiben, die Wut, dieser Situation ausgesetzt zu sein, den trotzigen Widerstand gegen Manipulationen einer schwer kranken, depressiven Frau, die Rebellion, den Wunsch, erst übertriebene und später vielleicht angemessene Grenzen zu ziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob du dir das schon zugestanden hast. Für mich klingt es so, als hättest du eine Abkürzung genommen und wärst gleich bei der Lösung angekommen, denn wenn du eines zu können scheinst, dann ist es, verschwommene, in der Luft liegende Verhaltensanweisungen perfekt zu befolgen.

In deinem Brief klingt an, dass deine Mutter eine schwierige Person ist, was sicherlich nicht anders zu erwarten ist bei einem Leben wie ihrem. Die meisten Menschen, die so lange schwer krank sind, entwickeln psychische Begleiterscheinungen, die das Leben mit ihnen schwer machen. Dazu kommt, dass ihre Probleme so übermenschlich erscheinen, dass alle anderen Probleme, also die eigenen, daneben verblassen und unbedeutend wirken. Ich schreibe das, weil ich glaube, dass du natürlich Empathie für die Situation deiner Mutter aufbringen sollst, auch Empathie für deinen Bruder und deinen Vater und ihre eventuellen Fehler in dieser Situation. (In deinem Brief klingt für mich an, dass sie dir auch keine besondere Stütze waren, sondern dass du eher eine Stütze für sie warst). Diese Empathie wirst du aber nicht aufbringen können, ohne erst einmal für dich und deine Situation die notwendige Empathie aufgebracht zu haben. Das ist ein radikaler Akt, der mit vielen unausgesprochenen Übereinkünften brechen wird, die in deiner Familie seit vierzig Jahren bestehen. Doch wenn du an diesen „Wahrheiten“ des familiären Systems, in dem du aufgewachsen bist, weiter festhältst, wirst du die notwendige Empathie für dich selbst schlicht nicht aufbringen können, weil du nicht ganzheitlich begreifst, was du eigentlich durchgemacht hast. Wenn du daran festhältst, wird es dir nie gelingen, die gesunden Grenzen zwischen dir und deiner Familie zu ziehen, die so dringend nötig sind.

Womit wir bei deiner eigentlichen Frage wären: Ja, ich glaube, es wäre eine großartige Sache, wenn du mit deiner Mutter darüber redest, wie du deine Kindheit empfunden hast – deine Kindheit wohlgemerkt, nicht die deines Bruders und auch nicht das Erleben deines Vaters. Und bitte steh dir dabei zu, so distanziert und kühl zu sein, so aufgewühlt und traurig und wütend, wie du dich gerade fühlst. Versuch nicht zu funktionieren, nicht abzuwägen und nicht auf Ausgleich bedacht zu sein. Versuch einfach, die Realität und die Wahrheit deines Erlebens so aufrichtig wie möglich zu empfinden und dann so ehrlich wie möglich auszusprechen. Sicherlich wird das ein Gespräch, das in vielen Etappen stattfinden wird. Sicherlich wird es ein Gespräch, in dem sich deine Mutter weigern wird, bestimmte Dinge zu verstehen, in dem sie einige Dinge wirklich nicht verstehen wird, in dem sie ihre eigene Verletzung zeigen wird und sicherlich auch ihre manipulativen Züge. Du wirst merken, dass du sie verletzt, auch wenn du es nicht willst, und du wirst das akzeptieren müssen und schauen müssen, wie sich das anfühlt.

Aber ich glaube, dass du überrascht sein wirst, welchen Gefallen du dir und deiner Mutter damit tun wirst. Denn Ehrlichkeit ist gerade in solchen familiären Systemen, wie du sie beschreibst, ansteckend. Alle sehnen sich danach, auch und gerade diejenigen, die sie zu verhindern scheinen. Fang einfach damit an, dir vorzunehmen, ein kleines Thema, ein kleines Erlebnis anzusprechen, wenn ihr das nächste Mal miteinander telefoniert, und nur das. Schau, was draus wird, wie du damit umgehen kannst und welche Auswirkungen das in den Tagen danach auf dich hat, wie du dich dann fühlst. Dann sprich das nächste kleine Thema an. Vertrau den Dynamiken, die sich dabei ergeben. Sicherlich sind keine sofortigen Wunder zu erwarten – aber vielleicht große mittel- und langfristige Verbesserungen. In jedem Fall könnten du und deine Mutter, für die Zeit, die ihr noch gegeben ist, neu zueinander finden oder euch zumindest auf ehrliche Weise etwas näher sein als bisher. Und das habt ihr sicherlich beide verdient.

Ich wünsche dir alles, alles Gute für deinen Weg. Du bist nicht allein.

Hab’s gut und pass auf dich auf!

Dein Daniel

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