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Schüchternheit und ihre Folgen

Cornelius ist ein recht introvertierter Mensch. Doch neuerdings verlässt er immer häufiger seine Komfortzone. Warum fühlt es sich so an, als würde sein Unbewusstes ihn dafür bestrafen?

Dear Daniel,

ich war gestern auf einer Party, die mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Ich bin schon immer ein recht introvertierter Mensch gewesen. Doch derzeit mache ich Dinge, die ich früher nicht gemacht habe. Teste Grenzen aus und entdecke dabei neue Seiten an mir. Es sind befreiende Erfahrungen. Erfahrungen, die etwas Chaos in mein sonst recht sortiertes Leben bringen. Und die ich grad gezielt suche. Oder herausfordere. Andererseits folgt diesen Momenten manchmal eine Melancholie, die ich nicht so recht einzuordnen weiß. Ein schlechtes Gewissen fast. Als würde ich mich von einem Teil von mir verabschieden. Was denkst du über dieses ambivalente Gefühl zwischen Rebellion und Melancholie?

Dein nachdenklicher Cornelius

Lieber Cornelius,

Ich denke schon seit einiger Zeit über deinen Brief nach – vielen Dank dafür. Ich habe eine Antwort hinausgezögert und mir war lange nicht bewusst, warum. Erst in den vergangenen Tagen bin ich draufgekommen: Mir geht es häufig ähnlich wie dir, aber ich verdränge das, möchte davon nichts wissen und habe das Gefühl, dass ich nicht funktionieren würde, wenn ich zu viel darüber nachdenke.

Erst einmal: Ich bin extrem beeindruckt davon, dass du Dinge machst, die außerhalb deiner Komfortzone liegen, deine Grenzen neu austestest und dich weiterentwickelst – das machen nur die allerwenigsten Menschen, auch wenn viele von uns genau das wollen oder zumindest wissen, wie gut uns das täte. Die meisten Leute legen großen Wert darauf, ihre Komfortzone nicht auszuweiten, und der menschliche Kopf ist sehr gut darin, Gründe gegen eine solche Ausweitung zu finden. Man erzählt sich, dass man Dinge jenseits des Bekannten und Gewohnten ohnehin nicht möchte, dass sie uninteressant oder gar gefährlich sind. Deswegen hoffe ich sehr, dass du stolz auf deine Exkurse in eine neue Welt sein kannst. Stolz darauf, dass du dich dem Leben stellst.

Ich selbst bin auch ein introvertierter Mensch. Als Teenager und junger Erwachsener war ich so schüchtern, dass ich in vielen Seminaren an der Uni nichts sagen konnte und nur auf Partys ging, wenn ich mir Mut antrank. In den vergangenen Jahren ist dieses Problem in professionellen Kontexten wie Lesungen, Moderationen oder Diskussionsrunden wieder aufgetaucht. 

Ich selbst bin auch ein introvertierter Mensch. Als Teenager und junger Erwachsener war ich so schüchtern, dass ich in vielen Seminaren an der Uni nichts sagen konnte und nur auf Partys ging, wenn ich mir Mut antrank. Ich glaube, dass das auch ein Grund für meine spätere Abhängigkeit war, denn Alkohol und Drogen waren das Zaubermittel, das gegen alles half, vor allem meine soziale Angst. Interessanterweise sollte sich diese Schüchternheit erst legen, als ich mit dem Trinken aufhörte und lernte, schwierige soziale Situationen mit mir unbekannten Menschen ohne Hilfsmittel zu navigieren. Das war zwar nicht einfach, aber es einfacher, als ich es mir immer vorgestellt hatte. In den vergangenen Jahren ist dieses Problem in professionellen Kontexten wieder aufgetaucht. Immer, wenn ich irgendwo auf eine Bühne musste, sei es für eine Lesung, eine Moderation oder eine Diskussionsrunde, überkam mich erneut diese soziale Angst, diese Schüchternheit. Häufig sprach ich so leise, dass man mich auch mit Mikrofon nur schlecht verstehen konnte. Auch die soziale Angst bei Auftritten sollte sich über die Jahre durch die Praxis legen, dadurch, dass ich mich der Situation, von der ich Angst hatte, wiederholt aussetzte und so mit der Zeit lernte, dass ich sie irgendwie meistern konnte.

Du fragst dich jetzt sicherlich, wohin das Ganze geht, was meine Lesungen mit deiner Introvertiertheit zu tun haben und mit dem unangenehmen Gefühl nachdem du sie bewusst überwindest. Der Punkt ist der: Mir geht es nach jedem Auftritt genauso wie dir: Am nächsten Morgen fühle ich mich schlecht, niedergeschlagen und traurig, als hätte ich etwas falsch gemacht, als hätte ich ein schlechtes Gewissen. Selbst wenn ich weiß, dass die Veranstaltung gut gelaufen ist, reagiere ich so. Und ich vermute, dass das bei dir auch so ist und die von dir beschriebene Melancholie auch nach schönen Abenden einsetzt, was sie noch verwirrender macht. Bis heute versuche ich, zwischen zwei Veranstaltungen mindestens eine eintägige Pause zu machen, da ich weiß, dass mich dieses Gefühl einholt. Das ist nicht immer möglich, aber wenn es mir gelingt, macht es einen großen Unterschied.

Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich dieses Gefühl habe. Ich bin irgendwann darauf gekommen, dass es eine Schamreaktion ist, eine verspätete Reaktion meines Unbewussten darauf, dass ich sozial war, dass ich mich gezeigt und Menschen eine Angriffsfläche geboten habe. Es fühlt sich fast so an, als würde mich mein Unbewusstes dafür bestrafen.

Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich dieses Gefühl habe. Ich bin irgendwann darauf gekommen, dass es eine Schamreaktion ist, eine verspätete Reaktion meines Unbewussten darauf, dass ich sozial war, dass ich mich gezeigt habe, dass ich Menschen eine Angriffsfläche geboten habe. Es fühlt sich fast so an, als würde mich mein Unbewusstes bestrafen und mich daran erinnern, dass ich mich für diese Dinge, die ich getan habe, eigentlich schämen sollte. Biochemisch wird diese Reaktion durch den „Adrenalinentzug“, den ich nach Lesungen durchmache, unterstützt. In sozialen Situationen, in denen man Angst hat, schüttet der Körper einen biochemischen Cocktail aus, der für ein körpereigenes High sorgt und einen dabei hilft, diese Situationen zu überstehen. Wenn man von diesem High herunterkommt, fühlt es sich nie gut an. Ob es sich bei den Situationen um eine Party oder einen Auftritt handelt, ist egal, der Körper reagiert immer so, wenn man seine Komfortzone verlässt.

In einem gewissen Sinne zeigt deine Melancholie also an, dass du etwas richtig gemacht hast. Sie ist die natürliche Reaktion darauf, dass du deine Grenzen austestest. Dein Unbewusstes und dein Körper versuchen, dich quasi wieder in den Dunstkreis deiner Angst zurückzuholen und so die Zone vermeintlicher Sicherheit wiederherzustellen, die ihr Befolgen verspricht. Das einzige, was gegen diese Reaktion hilft, ist das Sich-weiter-Aussetzen dieser herausfordernden sozialen Situationen. Man lernt nur nach und nach, dass man sie meistern kann, dass es erfahrungsgemäß keinen Grund für die soziale Angst gibt, die man spürt. Irgendwann werden auch dein Unbewusstes und dein Körper das verstanden haben. Bis dahin bleibt dir nichts anderes übrig, als diesem melancholischen, schamhaften Gefühl den nötigen Raum zu geben und dem Teil deiner Persönlichkeit, aus der dieses Gefühl kommt, so viel Liebe zu schenken, wie er verdient. Für einige Menschen sind soziale Interaktionen schwieriger als für andere. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss.

Ich glaube, dass du diesen schwierigen Weg, lieber Cornelius, schon lange gehst, und darauf, vielleicht sogar ohne es zu merken, auch schon weit gekommen bist. Bitte weiß, dass du mit diesen Gefühlen nicht allein bist. Ich wünsche dir alles, alles Gute - innerhalb und außerhalb deiner Komfortzone.

Alles Liebe, Daniel

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