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Dein Gehirn tut nur so, als wüsste es, wann jetzt ist

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Warum alles, was wir jetzt wahrnehmen, eigentlich in der Vergangenheit liegt und wie das Gehirn dieses Problem löst.

Im Podcast geht es heute um die Frage, wie unser Gehirn uns signalisiert, ob wir satt sind – und warum es heutzutage so oft dabei scheitert. Hier geht´s zur Folge! (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Wir starten mit einem kleinen Experiment. Wenn du gerade einen Spiegel in der Nähe hast, stell dich kurz vor ihn. Schaue nun auf dein linkes Auge.

Schaue jetzt auf dein rechtes Auge.

Jetzt wieder auf dein linkes.

Und jetzt immer hin und her.

Jetzt habe ich eine ganz einfache Frage: Hast du jemals gesehen, wie sich deine eigenen Augen bewegen? (Videoaufnahmen jetzt mal ausgenommen.)

Die Antwort ist nein. Wir sehen nie, wie sich unsere eigenen Augen bewegen. Woran liegt das? Bewegen sich unsere Augen so schnell, dass man ihre Bewegung nicht sehen kann? Nein, das kann es nicht sein. Wenn wir jemandem gegenüberstehen, der gerade seine Augen bewegt, sehen wir diese Bewegung.

Die Antwort ist: Wenn wir unsere Augen bewegen, sind wir für diesen kleinen Augenblick blind. Augen, die sich bewegen, sehen nichts. Deshalb sehen wir im Spiegel nicht, wie sich unsere Augen bewegen. Wir sehen die Augen erst wieder, wenn sie stillstehen. Es fällt uns nur nicht auf. In diesem kurzen

Augenblick der Bewegung bekommt unser Gehirn keinen visuellen Input. Damit wir die Welt aber nicht in Bruchstücken wahrnehmen, nimmt unser Gehirn die Informationen, die es vor der Bewegung hatte, und die Informationen nach der Bewegung und fügt sie zu einem flüssigen Gesamtbild zusammen. Es tut so, als wäre überhaupt nichts passiert. Tutto bene.

Warum erzähle ich euch das? Heute geht es um eine wahnsinnig profane Frage, die aber gar nicht so einfach zu beantworten ist: Was ist jetzt? Oder besser: Wann ist jetzt? Um diese Frage zu beantworten, muss man ins Gehirn schauen. Der Psychologe Hinze Hoogendorn macht genau das. Was er darüber erzählt, ist ziemlich spannend.

Unser Gehirn sagt die Zukunft voraus und verkauft sie uns als jetzt

Unser Gehirn fügt die visuellen Informationen nämlich nicht nur zu einem Gesamtbild zusammen, wenn wir unsere Augen bewegen. Es macht das ständig, praktisch immer. Nehmen wir, wie Hoogendorn, das Beispiel eines Tennisspielers.

Ein richtig guter Tennisspieler schlägt den Ball so schnell auf, dass er gerade einmal 0,33 Sekunden braucht, bis er auf der anderen Seite aufkommt und beim Gegenspieler ist. Das heißt, wer auch immer den Ball annehmen und zurückspielen will, hat gerade einmal 0,33 Sekunden Zeit, den Ball wahrzunehmen und seinen eigenen Muskeln mitzuteilen, was sie tun sollen, um den Ball zu erwischen. Das ist nicht gerade viel Zeit. Das Gute ist: Um den Ball wahrzunehmen, braucht das Gehirn nur 0,1 Sekunden. Also, alles easy.

Das Problem ist: Wenn dein Gehirn die Position des Balls in der Luft verarbeitet und damit wahrgenommen hat, fliegt dieser natürlich weiter. Bei schnellen Aufschlägen ganze sieben Meter in diesen 0,1 Sekunden, die dein Gehirn braucht. Das heißt: Die Position, in der dein Gehirn den Ball wahrnimmt, ist zum Zeitpunkt, an dem das Gehirn den Ball wahrnimmt, eigentlich schon völlig veraltet. Der Ball ist längst weiter. Mist.

Aber, wir erinnern uns an oben. Unser Gehirn ist ziemlich gut darin, einfach so zu tun, als wäre alles gut. Sonst würden die Tennisspieler:innen dieser Welt nur Asse schlagen. Statt sich über seine eigene Langsamkeit zu ärgern, sagt unser Gehirn lieber die Zukunft voraus. Wenn es den Ball an einer Position wahrnimmt, sagt es voraus, wo er bei diesem Tempo jetzt sein müsste. Also jetzt im Sinne von: wenn die visuellen Informationen das Gehirn erreicht haben und wir den Ball wahrnehmen. So schafft es das Gehirn, den Ball doch noch rechtzeitig an der richtigen Stelle wahrzunehmen – und zurück zu schlagen (im besten Fall).

Warum erwischen wir diese blöde Fliege nie?

Weil unser Gehirn immer ein bisschen Zeit braucht, um etwas wahrzunehmen, ist das jetzt, das wir erleben, also eigentlich immer in der Vergangenheit. Um nicht wie ein Idiot dazustehen, sagt das Gehirn deshalb in vielen Fällen (zum Beispiel bei sich bewegenden Objekten) lieber die Zukunft voraus und verkauft uns die Zukunft als jetzt. Das ist ziemlich cool. Manchmal aber auch sehr unpraktisch. Wie Hoogendorn am Beispiel einer Fliege erklärt. Denn, Überraschung, diese mit der Hand zu zerschlagen, ist ziemlich schwer. Aber warum ist das so?

Zunächst: Fliegen bewegen sich ziemlich schnell. Und weil das so ist, sagt unser Gehirn wieder voraus, wo sich die Fliege aufhalten wird, statt sich rein auf die visuellen Informationen zu verlassen. Das würde, wie schon beim Tennisball, viel zu lange dauern. Das Problem ist: Wir können nicht voraussagen, wo die Fliege entlang fliegen wird. Die Flugbahnen der Fliegen sind für uns unvorhersehbar. Unser Gehirn aber versucht es trotzdem, sagt voraus, wo die Fliege sein müsste und gaukelt uns vor, sie genau dort jetzt zu sehen.

Die Folge: Wir sehen die Fliege an einem Ort, an dem sie nie war, nicht ist, und nie sein wird. Was wir wahrnehmen, ist nicht die Realität. Sondern das, was unser Gehirn uns als Realität verkauft (aufgrund seiner Berechnungen). Kein Wunder, dass wir diese dämlichen Fliegen nie erwischen!

Zeit verfliegt, wenn wir Spaß haben. Aber gilt das auch andersrum?

Wir enden unsere kleine Reise ins jetzt mit einer Studie, deren Setup ich einfach genial finde. Den Teilnehmer:innen des Experiments wurde gesagt, dass sie zehn Minuten lang eine Aufgabe erledigen müssen. Dabei wurden sie zufällig einer von zwei Gruppen zugeordnet, aber alle bekamen die gleiche Aufgabe. Bei der ersten Gruppe teilten die Wissenschaftler:innen den Teilnehmenden schon nach fünf Minuten mit, dass die zehn Minuten nun vorbei seien. Der zweiten Gruppe teilte man dies erst nach 20 Minuten mit. Für die eine Gruppe verflog die Zeit also (künstlich!) sehr schnell, für die andere Gruppe verging sie (künstlich!) ziemlich langsam.

Warum sie das gemacht haben? Nun: Euch allen wird klar sein, dass Zeit schneller vergeht, wenn wir Spaß haben. Die Wissenschaftler:innen aber wollten das Gegenteil testen: Kann Zeit, die künstlich fliegt, uns dazu bringen, mehr Spaß zu haben? Und das Ergebnis ist genial.

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