Das Land der Verträumten
Über die Anderen, den Amerikanischen Traum und Romantisierung.
Ein Traum von Gleichberechtigung
Noras Vater kommt bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben. Vor vielen Jahren kam er aus Marokko, als das politische Klima dort für ihn lebensgefährlich wird. Nora wächst in der kalifornischen Wüste auf und wird Komponistin. Ihren Eltern gehört ein Diner, vor dessen Tür der Unfall passiert.
Joshua Tree (Foto von frank mckenna (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) auf Unsplash (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))
Die ersten 50 Seiten von The Other Americans sind schwer zu greifen, was vor allem an den vielen Erzählfiguren liegt. Dafür sind die nächsten 250 Seiten extra belohnend. Es geht um den Tod von Noras Vater und was er für sie, ihre Familie und die Stadt bedeutet. Es geht um alte und neue Liebe, Rivalitäten zwischen Schwestern, Verantwortungsgefühl und Erwartungshaltungen, Diskriminierung und Hoffnung.
“To believe that my father’s death was just an unfortunate accident meant that I would have to forget everything else I knew about my hometown. Discount the arson, erase the small insults, untether the hit-and-run from the time and place in which it happened. I couldn’t.”
Alle paar Seiten findet sich ein Zitat, das die amerikanische Kultur(geschichte) so eindrücklich und eloquent zusammenfasst, dass es unheimlich wird. Sobald man sich auf die Seite eines erzählenden Charakters schlägt und eine Meinung über die anderen Figuren formt, folgt ein Kapitel mit der gegensätzlichen Perspektive. Es wird immer wieder klar, dass alle ihr eigenes Päckchen zu tragen haben, dass es tiefere Beweggründe gibt, dass sie alle Produkte ihrer Zeit und ihrer Sozialisierung sind.
Dabei schafft es der Roman trotzdem eine klare Haltung zu haben und verliert sich nicht in Entschuldigungstiraden für Täter. “So ist er halt aufgewachsen, er hatte eine schwierige Kindheit”. Die Realität ist komplexer und die Autorin Laila Lalami wird dem gerecht. Auch wenn Gefühle noch so kompliziert sind, kann sie sie in Worte fassen und macht Lebensrealitäten greifbar, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Richard Heeps, Dot's Diner, Bisbee, Arizona, 2001
“Meanwhile, my dad sits in the big lawn chair, drinking and holding forth on the war in Iraq. He’d served in the Army Reserve, did a brief stint as an equipment-repair technician in Kuwait during Desert Storm , and somehow that made him an expert. But he’d never had to see intestines hanging like garlands from a pomegranate tree, never had to break down someone’s door at three a.m., never had to hold a gun on a mother while the males of the household were rounded up, never had to put a tourniquet on what was left of Sanger’s arm, never had to walk past the bodies left behind on the street, their eyes and noses and mouths obliterated by militias from one faction or another. Talking about the fallen came more easily to those who hadn’t witnessed the falling.”
Der Ton von The Other Americans ist gleichzeitig einfühlsam und distanziert, er lässt Platz für eigene Gedanken und Emotionen ohne dabei willkürlich zu werden. Am besten beschreibt es der Observer: “A state-of-America family saga told as a slow-burn detective story”. Der Roman skizziert ein alternatives Narrativ zu dem des American Dream: Denn auch wenn Noras Vater Teil der Gesellschaft war und ein erfolgreiches Geschäft hatte, blieben er und seine Familie die anderen Amerikaner:innen.
“In high school, Sonya and I had few friends. We were the only girls in the jazz band; we had last names that teachers always shortened to an initial; we celebrated holidays that were not listed on the school calendar; we were cast as the Magi in the Christmas play every year, despite our protestations that we were girls, always the Magi, with flowing white scarves covering our long hair, and robes dissimulating our budding breasts and hips. We were both thought to be Muslim and Sonya often had to say, No, no, I’m Hindu. Then in September of our sophomore year, two planes were flown into the World Trade Center and strangely that distinction seemed to matter less, not more. We were both called the same names.”
Richard Heeps, Roy's Motel - Route 66, Amboy, California, 2001
Happy Birthday to us
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Eine düstere Allegorie des American Dream zeigt The Fall of the House of Usher. Die Netflix-Serie ist eine Adaption der gleichnamigen Geschichte von Edgar Allan Poe und zeigt den Fall der Familie Usher, wobei jede Folge wiederum eine Adaption einer anderen Kurzgeschichte oder eines Gedichts von Poe ist. Clever gemacht, vermittelt den Gothic-Vive, den man von einer Poe Adaption erwartet und wird, obwohl die Qualität in den Folgen 2 und 3 ein wenig abnimmt, gegen Ende nochmal richtig gut.
Mit seinem Schnurrbart ähnelt Schauspieler Bruce Greenwood, der das Familienoberhaupt Roderick Usher spielt, John D. Rockefeller. Der Magnat machte sein Geld ab 1870 mit Öl (surprised Pikachu) und wurde später für sein Monopol kritisiert. Er gilt bis heute als der reichste Amerikaner, den es je gab. Die Verkörperung des American Dream. Vom Tellerwäscher (Sohn eines Trickbetrügers, dessen Familie nach Amerika floh und der später seine Familie verlässt) zum Millionär (Milliardär).
Americana rama lama ding dong
Im Gegensatz zum American Dream, der sich meist auf ökonomischen Erfolg beschränkt, ist Americana ein Lebensgefühl. Wikipedia fasst zusammen: “Americana ist ein Sammelbegriff für kulturelle Schöpfungen der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, die in einem weitgefassten Sinn die folkloristischen Überlieferungen der USA begründen oder mit ihnen in Verbindung stehen.” Was Americana und den American Dream vereint, ist der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung — das liebste aller konservativen Argumente, wenn es um den 2. Verfassungszusatz geht:
"A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed."
Der Zusatz stammt aus dem Jahr 1791, doch die Interpretation ist heute noch Gegenstand einiger Supreme Court-Fälle. Der Richter im Fall District of Columbia v. Heller (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) stellte 2008 fest, dass ein vom District ausgesprochenes Verbot, Handwaffen zu tragen, gegen den 2. Verfassungszusatz verstoße. Ein ähnliches Urteil fällte der Supreme Court zuletzt 2022 im Fall New York State Rifle & Pistol Association, Inc. v. Bruen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Auch hier wurde ein Gesetz des Staates New York als verfassungswidrig erklärt.
Von all dem will Americana nichts wissen. Americana ist ein Phantom. Ein Sehnsuchtsort. Es ist schön, nostalgisch, unpolitisch und existiert in einem Vakuum fern von jeglicher Lebensrealität. Ein Ideal der Nachkriegszeit, glorifiziert und romantisiert. Zwischen Billy Ray Cyrus und Muddy Waters. Zwischen Coca Cola und Blue Jeans. Zwischen Death Proof und Laguna Beach (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Zwischen Hiroshi Nagai (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), Edward Hopper und Norman Rockwell (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Zwischen The Swimmer, Der Fänger im Roggen und Walden (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
https://www.youtube.com/watch?v=bSfqNEvykv0 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Death Proof, 2007
Laguna Beach, Kalifornien, USA
Hiroshi Nagai, Tennis Court
Hiroshi Nagai
Edward Hopper, Western Motel, 1957
Edward Hopper, Gas, 1940
Norman Rockwell, The Thing to Do with Life Is Live It! (Outrigger Canoe), 1956
https://www.newyorker.com/magazine/1964/07/18/the-swimmer (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Darüber hinaus ist Americana auch der Titel eines Albums von The Offspring und einer Westernshow. Passend, denn wenig beschreibt den ungetrübten und ignoranten amerikanischen Geist so sehr wie das Narrativ der Frontier und Sorge um die Jugend (oder Sorge um das, was die Jugend mit Traditionen, Werten und Weltanschauungen macht). Irgendwann wird auch jemand unsere Zeit verklären. In sehr ferner Zukunft, wenn unsere heutige Welt von Späteren gedeutet wird.
Lügen
Wie denkt ihr Geschichte? Als kontinuierliche Linie? Sind wir dann gerade in der Mitte oder am Ende dieser Linie? Oder als einzelne Punkte, wie es der Geschichtsunterricht suggerierte: Erst kam die Antike, dann das Mittelalter, dann der 2. Weltkrieg und dann ist heute.
Zwei Dinge waren für meine Wahrnehmung von Geschichte ausschlaggebend. 1. die Erkenntnis, was Kontext ist und dass alles eine Ursache hat (was auch in der Physik relevant ist, was Isaac Newton (Erfinder der Schwerkraft (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)) in mehreren Gesetzen formuliert hat). Bestes Beispiel dafür ist Versailles und die französische Revolution. Ich will nicht sagen, dass der Bau des Schlosses unmittelbarer Auslöser der Revolution war (immerhin wurde erst der Enkel des Erbauers mit der Guillotine geköpft (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)), aber es gibt da schon einen Zusammenhang.
Schloss Versailles
Die 2. Erkenntnis war, dass historische Quellen keine objektiven Wahrheiten enthalten. Genauso wie ich heute Bullshit ins Internet schreiben kann, haben manche Menschen ihre Beschreibungen ein wenig ausgeschmückt oder Informationen ausgelassen. Da wären zum Beispiel eurozentrische Darstellungen der Kolonialisierung. Oder Richard III., dessen Ansehen massiven Schaden nahm, nachdem William Shakespeare in seinem Drama suggerierte, der König hätte seine Neffen ermorden lassen.
https://open.spotify.com/episode/2CmnPZFFR6tHnqgV4xEALX (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Meme der Woche
https://www.instagram.com/reel/CyJRVLYuhyi/?igshid=NzBmMjdhZWRiYQ== (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Warum ist das das witzigste, was ich je gesehen habe?! 💀
Danke
Vielen Dank, dass Du diese 15. Ausgabe des Mini-Newsletters gelesen hast. Wenn sie Dir gefallen hat, schicke den Newsletter gerne an Freund:innen oder Kolleg:innen, lockere Bekanntschaften, deine:n Ex, Verwandte oder poste ihn im Forum deiner Wahl.
Wir sehen uns genau hier schon bald wieder, wenn ich meine liebevoll geführte Excel-Tabelle voller Spiele, die ich dieses Jahr beendet habe, auswerte.
Ciao for now!
Christina