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Über die allgemeine Unerträglichkeit von Einstellungsprozessen

Heute ist es Zeit für einen Rant. Jetzt magst du dich fragen: “So früh schon? Es ist doch erst der vierte Newsletter!”, und ich möchte antworten: “Ständig. Denn die Situation ist eigentlich untragbar.”

Konkret geht es darum, wie kaputt viele Einstellungsprozesse sind. Ganz grundsätzlich, aber ich meine vor allem, wie feindlich sie gegenüber neurodiversen Menschen sind. Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens wollen viele Unternehmen nicht wissen, wer du bist und mit welchen Stärken und Schwächen du ausgestattet bist, sondern wie gut du “reinpasst”.

Niemand mag Monokulturen.  (Bild: Palmöl-Plantage in Kalimantan, Indonesien. Quelle (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))

Zweitens wollen sie möglichst wenige Risiken eingehen, und dafür verlassen sie sich auf die Einschätzungen anderer: Abschluss- und Arbeitszeugnisse zum Beispiel, oder Zertifikate. Bei all dem schneiden neurodiverse Menschen notorisch schlecht ab.

So oft habe ich es in Bewerbungssituationen schon erlebt, dass die Kandidat*innen beweisen mussten, dass sie unter Druck funktionieren. So oft war das Argument, man wolle ihre Stress-Resilienz testen. Aber wenn es sich nicht gerade um einen Job bei der Feuerwehr handelt (oder in der Abteilung Systemadministration), dann sollten akute Stress-Situationen nicht teil des Jobs sein, sie sind Ergebnis von schlechtem Management!

Eine andere Übung, die mich immer wieder auf die Palme bringt, sind Fangfragen. Diese prüfen nämlich nicht , ob man besonders gut im Nachdenken ist, sondern ob man einerseits genügend Impulskontrolle hat, um nicht sofort in die Falle zu tappen (Tschüss, ADHSler*innen!) und andererseits die Antennen dafür hat, dass man gerade in eine Falle gelockt wird (Tschüss, Autist*innen!). Im Vergleich dazu versteht es sich fast von selbst, dass Bewerbungsgespräche ansich schon feindselig sein können, wenn man soziale Ängste hat.

Ein weiterer Punkt sind die Noten. Nehmen wir zum Beispiel meine Mathenote im Abi: 8 Punkte - Befriedigend. Und das im Leistungskurs! Dass alle Lösungswege richtig waren und nur die Ergebnisse falsch, steht da nirgends. Dass ich bei keiner einzigen Aufgabe länger nachdenken musste auch nicht. Meine Hochschulprüfungen  zu Linearer Algebra und Analysis liefen genauso ab. Wer sich meine Noten anschaut, denkt daher ich sei eben nur so mittelgut in Mathe. Wer daraus eine Einstellungsvoraussetzung macht, vergibt sich im besten Fall eine Chance und verbaut im schlimmsten Fall einer talentierten Person die Karriere. Dabei sagt die Note genau eines: nämlich wie gut eine Person unter Prüfungsbedingungen in der Lage ist, Aufgaben zu lösen, die nur in den seltensten Fällen tatsächlich mit dem Verständnis des Stoffes zu tun haben. Die meisten Prüfungen in meinem Leben haben lediglich meine Fähigkeit zum Auswendiglernen von Wissen unter Beweis gestellt. Oder zum Auswendiglernen von Formeln.

“Aber wie denn sonst?”

Was, wenn wir ein Bewerbungsgespräch gar nicht als Hürde auffassen, sondern als Steigbügel? Dann kommen wir dazu, die viel passenderen Kandidat*innen einzustellen! Nichts, aber auch gar nichts, spricht gegen die Frage: “Wie glaubst du, uns von deinen Qualitäten überzeugen zu können?” und das Gespräch danach auszurichten.

Es gibt tatsächliche Qualitäten die abgefragt werden müssen? Klar, darf das kritisch angesprochen und vielleicht auch getestet werden. Aber dann sollten sich Arbeitgeber*innen Gedanken dazu machen, welche konkreten Anforderungen sie wirklich haben!

In meinen Bewerbungsverfahren geht es in der ersten Runde erst einmal völlig fachfremd um’s Kennenlernen. Unter vier oder sechs Augen, in Nicht-Pandemie-Zeiten gerne - sofern möglich - im Café oder beim Mittagessen. Verstehen wir einander, erweitern wir den Kreis und setzen uns erneut  zusammen - zu dritt oder viert  - und diskutieren Probleme und deren Lösungen. Kein “Frage-Antwort”-Gespräch, sondern Kollaboration. Und falls die Person sich damit unwohl fühlt,  finden wir auch dafür eine Lösung. Wir fragen außerdem: “Was brauchst du, um in deine Rolle hineinzuwachsen?”, und sehen uns die gesamte Zeit selbst in der Rolle einer Bewerberin.

Woanders mag dieses Verfahren nicht so gut passen, geschenkt. Aber mein Appell geht heute an alle raus, die an Bewerbungsverfahren beteiligt sind: Überleg mal, wo du die Situation verbessern kannst. Wo bei dir noch Vorurteile herrschen, wie eine Bewerbungssituation auszusehen hat. Und diskutier mal intern, mit den Personaler*innen,  mitVorgesetzten, mit Kolleg*innen. 

Schreib mir gern, wie es bei dir aussieht. Hast du Ideen, wie man Einstellungsprozesse besser gestalten kann? Oder hast du Geschichten, wie du als (neurodiverse*r) Kandidat*in besonders positive oder besonders negative Erfahrungen gemacht hast?

Bis zur nächsten Woche, 

Julian

P.S: Wie immer möchte ich um deine Unterstützung bitten. Der Newsletter ist kostenlos und wird es auch bleiben, aber ich hätte gerne noch ein paar mehr Leser*innen. Wenn dir also gefällt was du gelesen hast, dann empfiehl ihn doch weiter, ich bin dir dankbar!