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Dr McDreamy oder auch: Warum Derek eine furchtbare Person ist

Eine Kolumne von Charlotte Suhr (14. Januar 2024)

6,5 Seiten

Als ich noch jünger war, habe ich in jeder Serie, jedem Film und jedem Buch stets die Daumen gedrückt, dass die Hauptcharaktere mit ihrem jeweiligen Love Interest zusammenkommen würden. Die „will they, won’t they“ Dynamik war mein Crack. Ich wollte, dass Ross und Rachel aus Friends endlich ein Paar würden, denn wenn ein Vorspiel 10 Jahre lange dauerte und die beiden allen Querelen zum Trotz, immer wieder beieinander landeten und so sehr aneinander hingen, war das doch ein Zeichne! (Und keine Red Flag)

Ich wollte, dass J. D. aus Scrubs endlich seine Elliot bekam und quiekte vor Vergnügen, als Ron am Ende von Harry Potter Hermine küsste. Ich litt so sehr mit Ted aus How I mit your Mother, der doch nichts sehnlicher hoffe, als endlich mit seiner Traumfrau Robin zusammenzukommen und wünschte mir, dass sie endlich ihre Bindungsprobleme überwinden würde und das in Ted sah, was er war: Ihr Schicksal.

Ich hoffte, dass Grey´s Anatomys Meredith und Derek Dr. McDreamy Shepherd sich nach mehreren Jahren Quälereien, Zerfleischung, Liebeskummer, verheimlichten Ehen, Mommy Issues und „falschen“ Partnern irgendwann freudig in den Armen liegen würden. Mehrere Jahre so sehr in eine (fiktive) Beziehung investiert zu sein, macht etwas mit einem. Es sorgt dafür, dass man die Sehnsucht der Figuren zur eigenen macht und irgendwann den Fernseher anschreit, dass die beiden gefälligst aufhören sollen, sich in einem Missverständnis nach dem nächsten zu verfangen, so grässlich zueinander zu sein und mir gefälligst das Happyend verschaffen sollen, auf das ich seit fünf Staffeln warte. And now kiss!

Mir fehlt Medienkompetenz. Ich habe darüber schon einmal eine ganze Kolumne geschrieben, aber die Kurzfassung ist, dass es mir unglaublich schwer fällt, Texte und Geschichten zu interpretieren ohne dass mir diese bereits von den Autor:innen mundgerecht vorgekaut werden. Das liegt zum einen daran, dass ich stark dazu tendiere, Sprache beim Wort zu nehmen und exakt das aufzunehmen, was gesagt wird. Das bedeutet nicht, dass ich keine Ironie verstehe, nicht zwischen den Zeilen lesen kann oder offensichtliche Bildsprache mir ein Rätsel ist. Es bedeutet, dass wenn ich nicht weiß, dass ich etwas anders interpretieren sollte als es mir serviert wird, mein Automatismus dahin geht, dass ich erst einmal schlucke, was man mir vorsetzt. Erkenne ich bestimmte Muster und weiß, dass meine Analysefähigkeiten gefragt sind, dann nutze ich diese, aber ich brauche erst einmal das Go dafür.

Zum anderen habe ich lange Zeit absolut null Vertrauen in mein eigenes Bauchgefühl gehabt und wenn irgendwas in meinem Gehirn kitzelte, keinen Sinn gemacht hat, ich eine Sache anders sah als Figuren oder Ähnliches, war mein erster Gedanke: Du verstehst das falsch. Dir fehlt der Sinn dafür. Du bist nicht das gedachte Publikum. Das ist für Menschen, die normal denken und nicht so wie du. Ich vermute mal, dass das eine Folge meiner spätdiagnostizierten Neurodivergenz ist. Die Annahme, dass jeder logische Fehler an mir liegen muss. Ich muss etwas übersehen und vergessen haben, nicht die richtigen Empfindungen oder nicht lange genug darüber nachgedacht haben.

Neben meinen Schwierigkeiten, was das Thema Medienkompetenz angeht, war früher mein Wissen zum Thema Feminismus und Gerechtigkeit praktisch nicht vorhanden. Und selbst mit dem Erwerben von feministischem und philosophischem Wissen hat es noch lange Zeit und viel Hilfe von anderen Menschen gebraucht, bis ich dazu in der Lage war, die Theorie auf mein eigenes Leben oder fiktive Geschichten anzuwenden. Zu wissen, was Sexismus ist und Sexismus in den alltäglichsten Handlungen zu erkennen, sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe.

Und so sah ich nur das, was ich sehen wollte und wahrscheinlich auch sollte: Liebesgeschichten aus dem Male Gaze, in denen Männer nicht nur wie selbstverständlich der Main Character sind (selbst wenn sie es nicht sind) und sich so sehr daneben benehmen dürfen, wie sie wollen, solange sie nur besessen genug von einer bestimmten Frau sind und nicht die klischeehaften Eigenschaften von männlichen Arschlöchern haben - also Good Guys sind. Mein unerfahrenes Ich feuerte die Good Guys meiner Lieblingsgeschichten wie wild an und wollte sie unbedingt zusammen mit den weiblichen Protagonistinnen sehen, die ich in Wahrheit gerne sollte wolle.

Die Qualität und das Begehrenswerte besagter Männer wurde mir nicht durch ihre Handlungen gezeigt, sondern durch die Einnahme ihrer Perspektive sowie das Narrativ, dass sie gut waren. Wenn sie sich daneben benahmen, benahmen sie sich als eigentlich gute Kerle daneben. Wenn sie eklig waren, war das out of character oder weil sie provoziert worden waren oder so arg fühlten. Und fühlen ist schließlich etwas Gutes oder? Tell don´t show, war das Motto der Autor:innen und so framten sie die schrecklichsten Charaktere einfach als tolle Typen, die Sympathie bekommen sollten, will sie keine klassisch männlichen Eigenschaften hatten, vom Leben gemobbt und von anderen Männern klein gemacht wurden. Wer kein Jock ist, muss ein süßer Kerl sein oder? Ich musste erst mit der Zeit lernen, dass auch Nerds, Loser und Good Guys misogyne Arschlöcher sein können.

Alle von mir genannten Paarungen galten zu ihrer Zeit als unfassbar romantische Liebesgeschichten. Und insbesondere die Story von Meredith und Derek hat Millionen bewegt. Wir alle wollten nichts sehnlicher, als dass Derek sich endlich von seiner Frau trennt und Meredith über ihre schreckliche Kindheit hinwegkommt. Der gut-aussehende Arzt galt als so wahnsinnig toll, dass er innerhalb der Geschichte den Spitznamen Dr. McDreamy bekam. Ein Traumprinz mit tollen Haaren, für den jeder Tag ein wunderschöner Tag ist, um Leben zu retten. Ein lieber Typ, der für seine Patient:innen die Extrameile geht, shamanisches Rituale organisiert, stundenlang auf unoperierbare Tumore schaut, um Wege zu finden, seinen Patienten nicht zu lähmen und ein Schwarzes Waisenkind adoptiert. Dem Prestige egal ist und der in einem kleinen Bauwagen lebt und nichts mehr genießt, als morgens angeln zu gehen. Eins mit der Natur zu sein. So bescheiden. Der von seiner Ex-Frau betrogen wurde, Opfer und Main Character seiner eigenen Geschichte. Man möchte ihn in den Arm nehmen und retten.

Interessanterweise hatte ich bei Derek schon immer das Gefühl, mich klein neben ihm zu fühlen. Soweit ich das als Zusehende, die niemals tatsächlichen Kontakt mit ihm hatte, überhaupt sagen kann. Er wirkte immer sehr groß und man hatte das Gefühl, was er sagte, galt. Auch wenn er nicht Recht hatte, hatte er am Ende Recht. Er konnte seine Position immer so verargumentieren, dass ich am Ende überzeugt davon war, dass er die Situation korrekt interpretierte. Derek hatte immer nur das Beste der anderen im Sinn. Und wenn er laut wurde und schrie, wenn er Meredith ignorierte, seine erste Ehe vor ihr verheimlichte, sich für jene Ehe entschied und dann seine Ehefrau betrog, dann hatte er dafür gute Gründe. Moarlisch korrekte Gründe. Jedes einzelne Mal, wenn Meredith wütend auf Derek war und sich von ihm ungerecht behandelte fühlte, fand er einen Grund, warum in Wahrheit sie den Fehler gemacht hatte und er das Opfer der Geschichte war.

Anders gesagt: Derek Shepherd hatte Gaslighting perfektioniert. Und sogar ein bisschen romantisiert.

Wenn man einmal die rosarote Goodguy-Brille abnimmt und aufhört, stets den Mann als Main Charakter anzusehen und seine Sichtweise zum objektiven Standpunkt zu machen, dann war die Geschichte zwischen ihm und Meredith keine Liebesgeschichte, sondern die Rocky Horror Picture Show.

Bei TikTok gibt es einen - zugegeben etwas makaberen - Insider von Menschen, die die Grey´s Anatomy Figur George O´Malley nicht leiden können und sagen, sie seien „Team Bus“. Ein ziemlich böser Hinweis darauf, dass George von einem Bus todgefahren und so seine Rolle aus der Serie herausgeschrieben wurde. Bleiben wir bei diesem fiesen Humor, bin ich Team LKW. Also der, der Derek getötet hat. Okay, das klingt wirklich schlimm. Und ich habe bei der Folge damals wirklich sehr geweint. Natürlich wünscht man niemandem so einen schrecklichen Tod und was Meredith sowie ihre Kinder danach durchmachen mussten, war wirklich übel. Serientode sind immer schmerzhaft.

Aber wenn man sich einmal anschaut, welche Entwicklung ihre Rolle nach Dereks Tod nahm, kann man nur sagen: You go girl! Sie wurde zu einer Koryphäe auf ihrem Gebiet, gewann den höchsten medizinischen Preis, pflegte unglaublich schöne und intensive Beziehungen, zu ihrer Schwester und den anderen Menschen in ihrem Leben. Sie war eine unfassbar gute Mutter und tolles Vorbild. Sie söhnte sich sogar irgendwie mit ihrer toten Mutter und mit ihrem sterbenden Vater aus und nahm dabei eine Rolle ein, die sich grandios von ihrem Charakter zu Anfang der Serie unterschied. Sie wurde erwachsen. Sie war so geschätzt wie keine andere Ärztin, hatte einen unglaublich hohen Ruf, wahnsinnig viel Selbstbewusstsein und schaffte es - endlich! - aus dem Schatten von Derek herauszutreten. Genauso wie Amelia Shepherd im Übrigen, die von ihrem Bruder genauso klein gehalten wurde, da dieser tragischerweise im selben Fachgebiet arbeitete und immer als der Neurochirurg galt. (Ein anderer Neurochirug im selben Krankenhaus trug tatsächlich den Spitznamen Schatten-Shepherd. Wie furchtbar!)

Dereks Tendenz, die Frauen in seinem Leben an den Rand zu drängen und sich selbst als die Sonne anzusehen, um denen andere zu kreisen haben, ist nur eine der vielen Probleme, die ich mit dieser Figur habe. Wir erfahren von Addison, dass Derek innerhalb seiner Ehe stark durch Abwesenheit glänzte. Er war emotional nicht verfügbar und man kann wahrscheinlich annehmen, dass er extrem viel arbeitete und seine eigene Frau schlicht und ergreifend nicht mehr wirklich sah. Das rechtfertig zwar keinen Betrug, doch kann man davon ausgehen, dass dieser nicht aus dem Nichts kam und Derek bereits in seiner ersten Ehe vor allem mit sich selbst und seiner Karriere beschäftigt war. Dass auch in seiner ersten Ehe nicht seine Frau die oberste Priorität hatte.

Ich hatte bei Addison immer das Gefühl, dass diese ihm als einzige Frau jemals ebenbürtig war und eine der wenigen, die ihn in seine Schranken weisen konnte. Das zeigte sich insbesondere nach der Scheidung. Addison ließ sich von ihm nicht alles gefallen und sah ihn nicht als den Main Character an. Sie war nicht nur genauso alt wie er, sondern auch beruflich auf Augenhöhe mit ihm. Ganz im Gegenteil zu Meredith, die eigentlich während der gesamten Beziehung ihren Status als Intern (kurz für „Internship“, Bezeichnung für Assistenzärzt:innen im ersten Jahr) in seinen Augen niemals verlor. Addison selbst wies Derek darauf hin, wie jung Meredith war und dass er scheinbar genau das gesucht hatte: Eine Anti-Addison. Ein junge Anfängerin, die ihm nicht nur beruflich noch nicht einmal annähernd das Wasser reichen konnte, noch keinen eigenen Ruf (einmal abgesehen von ihrer berühmtem Mutter) und mindestens zehn Jahre weniger Lebenserfahrung hatte. Die noch nie in einer ernstzunehmenden Beziehung war und gerade erst ihr Studium abgeschlossen hatte.

Der Machtunterschied zwischen Derek und Meredith war von Anfang an vorhanden und sollte sich bis zu Dereks Tod nicht auflösen. Alleine die Tatsache, dass Derek Meredith in der ersten Staffel pausenlos während der Arbeit anbaggerte und es ihm egal war, dass sie die Konsequenzen zu tragen hatte, als ihre Beziehung ans Licht kam, zeigt von einer riesigen Egozentrik. Meredith war es, die die soziale Ächtung von ihrer Vorgesetzten Dr. Bailey sowie ihren Kolleginnen abbekam. Sie war es, der man vorwarf, sich hochzuschlafen und nicht Derek, der ja nach jener Logik immerhin derjenige war, der Gefallen gegen Sex eintauschte. Doch Meredith war nicht nur die Frau und damit ohnehin der misogynen Bestrafung ausgesetzt, überhaupt Sex und dann noch mit einem Vorgesetzten zu haben. Sie war auch die, auf die das Krankenhaus verzichten konnte. Hätte eine der beiden Personen gehen müssen, hätte die Beziehung nicht funktioniert, wäre es sicher nicht die Assistenzärztin gewesen, hinter die sich die Leitung gestellt hätte.

Diese Dynamik blieb für immer bestehen. Als Meredith eine medizinische Studie ins Leben rief und dafür unendlich viel Arbeit und Energie investierte, Derek dazu überredete, der verantwortliche Neurochirurg zu sein und in jeder einzelnen Operation assistierte und emotional investierter, wurde die schlussendlich erfolgreiche Methode nach Derek benannt. Die „Shepherd-Methode“ wurde in einem Magazin mit einem riesigen Foto von ihm veröffentlicht und im Artikel schaffte er es nicht einmal, Meredith zu erwähnen oder ihr zu danken. Nachdem sie dies angesprochen hatte, nannte er sie Baby, weil sie viel zu jung sei, noch unendlich viel lernen müsse und daher er die Credits verdient hatte. In welcher Welt macht es Sinn, dass man aufgrund des Alters keine Anerkennung bekomme sollte, wenn man maßgeblich den Erfolg eines Projekts geprägt hat? Beim Schauen der Folge habe ich Derek wirklich gehasst und dachte gleichzeitig: Hat er Recht? Bin ich zu dumm, um die medizinische Welt zu verstehen?

Eine Sache, die mir erst sehr spät in meinem Leben klar wurde ist die, dass Männer sehr gerne Situationen damit rechtfertigen, indem sie sich auf bestimmte gesellschaftliche und juristische Regeln beziehen, während sie nicht sehen, dass diese zum einen völlig arbiträr sind und zum anderen immer denen nutzen, die viel Macht haben. Wer Macht hat, schreibt Regeln, die ihm selbst nutzen und in einer patriarchalischen Welt nutzen diese Regeln vor allem reichen, weißen Männern. In einer Welt, die bestimmt, dass Anerkennung diejenigen für medizinische Erfolge bekommen, die bereits Prestige haben und nicht die, die die am Erfolg mitgearbeitet haben, hat Derek natürlich Recht. Aber es ist eine Tautologie und sowohl emotional als auch moralisch sollte offensichtlich sein, dass Meredith Lob und Credits für ihre Arbeit verdient hätte. Ihr zu sagen, dass sie ein Baby sei, während beide auch noch in  einer Beziehung sind - als wäre es nicht schon schlimm genug, wenn der Vorgesetzte eine so behandelt und nicht etwa der eigene Freund! - fand ich unglaublich furchtbar. Es zeigte nicht nur, dass für Derek die Arbeit und sein Ruf immer zuerst kamen, sondern dass der Altersunterschied der beiden stets zum Nachteil von Meredith war. Und warum Altersunterschiede generell oft ein Problem sind - vor allem, wenn der ältere Part männlich, reich und hoch angesehen ist.

Dass Derek seine Karriere über Meredith und später auch über deren Kinder stelle, zeigte sich immer wieder und insbesondere kurz vor seinem Tod. Die Tatsache, dass er seine Familie nicht nur auf unbestimmte Zeit verließ, um für den Präsidenten zu arbeiten und dort auch noch eine andere junge Assistenzärztin bezirzte! - fand ich einfach abscheulich. Wie selbstverständlich er davon ausging, dass Meredith sich automatisch um beide Kinder kümmern würde, obwohl sie selbst Vollzeit arbeitete. Ein weiterer - in der Serie nicht einmal erwähnter - Stein, den er ihr in den Weg legte, um ihre eigene Karriere voranzutreiben.

Mir ist auch erst später aufgefallen, dass Derek ein extremer Choleriker war. Er war eine Person, die sehr viel herumschrie und Wutanfälle hatte, insbesondere, wenn er nicht sofort seinen Willen bekam. Er war kein besonders netter Bruder und kein guter Freund. Wir sehen die Beziehung von Mark und Derek natürlich erst, nachdem ersterer bereits mit Addison geschlafen hatte und vielleicht war die Dynamik der beiden auch stark davon geprägt, aber ich hatte immer das Gefühl, dass Mark wahnsinnig nach der Aufmerksamkeit und Liebe von Derek lechzte und sie niemals bekam. Später sollten die beiden beste Freunde sein, doch diese Freundschaft schien immer nur von Mark auszugehen. Derek hörte Mark so gut wie nie zu, machte sich über ihn lustig, nahm seine Beziehung zu Lexy nicht ernst und oft hatte ich das Gefühl, dass er Mark eigentlich gar nicht leiden konnte. An seinem emotionalen Tiefpunkt in der fünften Staffel nutze er Marks Geständnis, mit Lexy geschlafen zu haben, dafür, jemanden verprügeln zu können. Er war niemals für Mark da. Er zeigte ihm keine Zuneigung, keine Gefühle. Es wirkte fast so, als würde er Mark zwar wieder in sein Leben lassen, ihn aber für immer für das bestrafen, was er ihm einmal angetan hatte. Die gleiche Dynamik, die man bei ihm und Addison beobachten konnte. Auf dem Papier versuchte er es noch einmal mit der Ehe, aber in Wahrheit verabscheute er Addison und behandelt sie von oben heran und zeigte ihr immer wieder, wen er eigentlich liebte. Ich hätte es fairer gefunden, die Beziehungen mit den beiden dann einfach gar nicht mehr zu kitten, als sie über Jahre immer wieder für ihre Sünden zu bestrafen und am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen.

Derek schien auch nie ein  besonders gutes Verhältnis mit seiner Familie zu haben. Denn obwohl er immer wieder sagte, wie wichtig ihm diese sei und dass er bei einem schweren Unfall alle seine fünf Schwestern bei sich haben wollen würde, behandelt er besagte Schwestern und seine Mutter nicht besonders gut. Er wusste, dass seine Familie ihn sehr liebte, sich um ihn sorgte und er aufgrund der Tatsache, dass er der einzige Mann in der Familie war, eine besonderen Status hatte. Sein Interesse, Kontakt mit seiner Familie zu haben, tendierte aber gegen Null. Er schien viele seiner Schwestern nicht einmal leiden zu können. Wenn seine Schwestern in seinem Leben auftauchen, war er abweisend, wirsch und wollte, dass sie so bald wie möglich wieder verschwanden.

Auf ihre berechtigten Klagen, dass er sich niemals melden würde, reagiert er ebenfalls wirsch und es kamen nie Erklärungen und Entschuldigungen. Derek schien seine Familie eher in der Theorie zu lieben als in der Praxis. Zudem fehlte es ihm extrem an Respekt für seine Schwestern, insbesondere für Amelia. Inwieweit seine Skepsis ihr gegenüber zu Anfang gerechtfertigt sein mochte, möchte ich gar nicht beurteilen, denn die Erfahrungen mit ihrer Drogensucht waren für die Familie sicher eine riesige Belastung, doch sein Verhalten ihr Gegenüber wurde auch nicht besser, nachdem sie eindeutig lange Zeit clean war, ihr Leben hinbekam und sich außerdem als eine unfassbar kompetente Ärztin herausstellte.

Nachdem Amelia seinen Job angenommen hatte, worum er sich gebeten hatte, um für Meredith beruflich kürzer treten zu können, machte er ihr diesen pausenlos streitig, drängelte sie zur Seite, machte sie sogar vor anderen Kolleg:innen schlecht und nahm sie nicht in Schutz, als ihr Job auf dem Spiel stand. Er konkurrierte mit ihr um den Job, der er ihr freiwillig gegeben hatte so hinterhältig, dass sie diesen beinahe verlor. Und nutzte dabei seinen eigenen Ruf sowie sein Male Privilege, weil er wusste, dass sein Wort unglaublich viel Wert im Krankenhaus hatte.

Derek nutzte Menschen, um das zu bekommen, was er wollte. Und als Meredith in der vierten Staffel Probleme hatte, sich auf die Beziehung einzulassen aufgrund von unaufgearbeiteten Kindheits-Traumata sowie den Erfahrungen mit Derek, der ihr seine Ehe verschwiegen und sich für Addison entschieden hatte - wenn das kein Grund für Vertrauensprobleme ist! - suchte er sich direkt die nächste, wesentlich jüngere Frau, die hierarchisch Welten unter ihm stand und ihn anhimmelte. Ich habe die Krankenpflegerin Rose gehasst, als ich die Serie zum ersten Mal gesehen habe und war überzeugt davon, dass sie der Grund war, warum Derek und Meredith nicht zusammen sein konnten. Doch in Wahrheit nutzte Derek diese einfach nur aus, um Meredith zu bestrafen. Ihr zu zeigen, dass er jederzeit eine andere Frau haben könnte. Den berechtigten Einwand, dass Meredith keinerlei Grund hätte, ihm zu vertrauen, stellte er als vollkommen lächerlich dar, um anschließend mit der Beziehung mit Rose genau diese Vertrauensprobleme zu untermauen.

Meredith, die so viel mit Derek mitgemacht hatte, durfte jetzt keine Zweifel haben? Hatte keinen Raum für psychische Probleme?

Nachdem Derek Meredith in der zweiten Staffel verlassen hatte und diese nach längerer Zeit zugestimmt hatte, mit ihm befreundet zu sein, erzählte sie ihm irgendwann im Vertrauen, dass sie mit George geschlafen hatte. Und was tat Derek? Er slutshamte Meredith! Moralisierte ihr Sexualleben, obwohl er keinerlei Recht dazu hatte und beendete in diesem Zuge auch noch die Freundschaft. Aus Eifersucht, Kleinlichkeit und schlicht und ergreifend einem miesen Charakter, anders kann ich es nicht sagen. Derek war der Grund, warum Meredith die Neurochirurgie verließ, für die sie nicht nur ein riesiges Talent, sondern auch eine große Hingabe und Leidenschaft hatte. Weil er meinte, die beiden könnten nicht zusammen arbeiten und sie würde keine Regeln respektieren. Derek warf Meredith immer wieder vor, sie sei unerwachsen und würde sich an keine Regeln halten, dabei tat er das selber nicht. Derek operierte nicht nur in der zweiten Staffel einfach an seinem Patienten weiter, als das Krankenhaus wegen einer Bombe abgeriegelt wurde und brachte sich selbst in Lebensgefahr, sondern hörte auch nicht auf, an einer Frau zu operieren, nachdem diese längst verloren war und Addison ihn mehrmals darauf hinwies, dass er dringend aufhören müsste.

Die Sache ist die: Bei Grey´s Anatomy hält niemand sich an die Regeln und die Prämisse ist eigentlich, dass für die Patient:innen alles getan wird, auch juristische Gesetze ausgehebelt werden können und müssen. Das macht auch ein wenig den Charme der Serie aus. Und ist eine der Eigenschaften, die sowohl die Zusehenden als auch die Kolleginnen von Meredith vor allem an ihr schätzten. Ihre Opferbereitschaft für die Patient:innen und dass sie die für Menschen, die sie liebt, alles tun würde. Doch Derek warf ihr genau diese Eigenschaft immer wieder vor und legte sie ihr als Unreife aus. Insbesondere, als sie für Adele Webber in der Alzheimer-Studie Medizin gegen das Placebo eintauschte. Und diese Doppelmoral von Derek war meiner Meinung nach vor allem das Problem. Ich denke, dass es Derek nicht darum ging, dass Meredith so oft die Regeln brach, sondern dass sie ihm widersprach. Ihm zuwider handelte und eine andere Meinung hatte. Dass sie ihn nicht um Erlaubnis fragte.

Ich glaube, ich könnte noch unendlich lange weitermachen. Die Liste an schrecklichen Dingen, die Derek, wie so viele Männer bei Grey´s Anatomy gemacht haben, ist lang. Unendlich lang. Heißen sie nun Jackson, Richard, George, Owen oder Derek. Ich weiß nicht, ob Shonda Rhimes - die Serienmacherin - eine geniale Reproduktion der tatsächlichen Welt geschaffen hat, in der leider wirklich so viele Männer herumlaufen, die als absolute Nice Guys gelten und deren Fehler stets ignoriert werden oder ob ihre eigene misogyne Sozialisierung der Grund war, solche Männer zu schaffen. Fakt ist jedoch, dass die Frauen in der Serie beinahe alle unglaublich mies behandelt wurden und alle Hände voll zu tun hatten, sich frei zu strampeln und ihre eigenen Rechte zu erkämpfen. Ellis Grey, Cristina Yang, Meredith Grey, Callie Torres - sie alle wurden von den Männern in ihrem Leben unglaublich stark ausgenutzt, zurechtgestutzt und für ihre Stärke und ihr Talent bestraft. Aber vielleicht ist genau das die Lehre, die wir aus der Serie am Ende ziehen können.

Egal, wie stark und talentiert, wie furchtlos, fleißig und phantastisch man als Frau auch sein mag: Es wird immer Männer geben, die einem das Gefühl geben, nicht genug, klein, schwach, abhängig und schlecht zu sein. Und es gilt, sich von diesen Männern fernzuhalten - egal, wie toll sie auf dem Papier wirken.

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