Erste Hilfe bei Gewalt – Ich bin ein Erstkontakt, wie kann ich helfen?

Von Tina Steiger
Das Thema “Gewalt gegen Frauen” ist in den letzten Jahren mehr in den Fokus der Gesellschaft gerückt, als es je war. Die Gewaltzahlen steigen rasant und endlich wird darüber gesprochen. Das baut auch für von Gewalt betroffene Frauen die Hürden ab, sich Hilfe zu suchen. Längst sind nicht nur Polizei oder Beratungsstellen Erstkontakt bei Gewalt, sondern auch Arztpraxen, Therapeut:innen, Kindergärten, Lehrer:innen oder die Kinder- und Jugendtherapeut:innen mitbetroffener Kinder.
Doch wissen alle, was zu tun ist, wenn eine Frau von Gewalt zuhause erzählt? Vielleicht öffnet sich eine gewaltbetroffene Frau, weil sie die eigene Gynäkologin besonders vertrauenswürdig und sympathisch findet, oder die Hausärztin. Vielleicht ergibt sich spontan ein Gespräch mit der Lehrerin des Kindes. Statt erschrocken über das harte Thema “Gewalt gegen Frauen” zu sein, sollten mögliche Erstkontaktstellen sich vorbereiten und lernen, welche Tipps im Zweifel Leben retten können. Was sind die ersten Schritte für Frauen aus Gewalt zu denen Fachstellen raten und welche Tipps können den Weg bereiten? Wo können sich Frauen Hilfe und Beratung einholen und wie sollten sie sich vorbereiten? Hier kommen 10 Tipps für Menschen, die vielleicht unverhofft zum Erstkontakt für Betroffene werden.
Mit den eigenen Vorurteilen aufräumen. Die Frau, die ja sitzt, wirkt aufgeräumt, steht im Leben, macht vielleicht sogar Karriere, wirkt immer “glücklich”. So jemand kann doch kein echtes Opfer sein, oder doch? Männer aller sozialer Milieus schlagen zu und üben schwere psychische Gewalt und Zwangskontrolle aus. Die Männer, die das Haus morgens im Anzug verlassen, genauso wie der beliebte Trainer im Sportverein oder der nette Typ von der Baustelle. Täter finden sich überall und sie alle sehen unterschiedlich aus. Wieso also gilt noch immer die Annahme, dass man es Frauen, die Gewalt erleben, ansehen muss? Betroffene Frauen finden sich im Marketing, in Vorstandsetagen, als Lehrerinnen, Polizistinnen oder Sozialarbeiterinnen. Sie erleben Gewalt, weil Täter im Privaten Gewalt wählen. Und sie bleiben, weil Täter bedrohen, manipulieren und finanzielle Handlungsmöglichkeiten für eine Flucht einschränken. Keine Frau erlebt Gewalt, weil sie das Problem ist. Keine Frau zieht Gewalt an. Deshalb ist es ein fataler Irrglaube zu denken, dass Opfer ein bestimmtes Aussehen oder Auftreten haben. Im Gegenteil: Für Frauen, denen man “es nicht ansieht” dass sie Gewalt erleben, ist es besonders schwer, sich Hilfe zu holen. Schon alleine deshalb, weil ihnen trotz horrender Zahlen in der Gewaltstatistik einfach nicht geglaubt wird.
Der nächste logische Schritt ist also uneingeschränkt zu glauben. Und auch dann, wenn man den Täter selbst “kennt”, regelmäßig sieht und sich denkt, der nette Mann kann kein Täter sein. Selbst bei Femiziden sind als Täter die “netten Männer von nebenan” darunter. Die Biedermänner, denen das niemand zugetraut hätte. Niemand weiß, was Familien im Verborgenen erleben. Einer betroffenen Frau zu glauben, ist bei bis zu einer Million Betroffenen pro Jahr in Deutschland (Hellfeld und Dunkelfeld) das Mindeste. Glauben heißt auch, aufmerksam und offen zuhören. Die Frauen sprechen lassen und versuchen, keinerlei Bewertung aufzuerlegen. Der Satz “Das haben Sie nicht verdient”, kann Wunder bewirken. Bitte keine Sätze mit “Sie müssen, sie sollten”. Sich öffnen ist mit so viel Scham verbunden für betroffene Frauen. Weil noch immer sie es sind, die stigmatisiert werden, weil man erwartet, dass sie nun in sofortigen Lösungen denken und dass sie “für die Kinder nicht die Familie zerstören”. Auf Frauen liegt der ganze Druck, während es die Männer sind, die zuschlagen. Zuhören und den Raum halten kann ein erster Moment sein, in der eine Frau erlebt, dass es in Ordnung und sicher ist, ihre Erfahrungen zu teilen. Dass sie nicht bewertet oder verurteilt wird und dass da jemand sitzt, der oder die sicher ist.
Die richtigen Fragen stellen. Hat sie sich schon einmal jemandem gegenüber geöffnet? Ist sie derzeit physisch sicher oder nimmt die Gewalt aktuell in Frequenz und Intensität zu? (Dazu auch lesenswert der Artikel zu den Anzeichen für einen drohenden Femizid. Wo? Hier im Magazin der Bildungs-Initiative Gewaltschutz) Sind Kinder involviert? Gibt es Freunde, die einbezogen werden können? Sind bereits erste Schritte wie Anzeigen oder ein Auszug unternommen oder eingeleitet? (Oft ist das nicht der Fall und wenn doch, dann befinden sich Frauen in der mit Abstand gefährlichsten Phase. Eine Trennung bedeutet Selbstbestimmung und für Täter den absoluten Kontrollverlust. In dieser Phase eskaliert die Gewalt und es kommt zu Femiziden und erweiterten Suiziden mit Kindern. Es geht als Nicht-Fachkraft nicht so sehr darum, hier Antworten zu geben oder Lösungen anzubieten, aber diese Fragen können den Verlauf des Gesprächs beeinflussen und Auskunft darüber geben, wie hoch das Gefährdungspotential ist und wie groß der akute Handlungsbedarf. Zudem sind diese Fragen bei einem Erstkontakt ein wichtiger Wegweiser für die Frauen selbst, um weitere Denkprozesse und nächste Schritte einzuleiten.
Das Hilfetelefon empfehlen. Was immer die beste Wahl ist, ist das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (www.hilfetelefon.de), das rund um die Uhr unter der Telefonnummer 116 016 zu erreichen ist. Die geschulte Beratung ist in 16 Sprachen und auch erst einmal anonym möglich. Hier können sich Frauen ersten fachlichen Rat einholen. Auch Beratende können hier anrufen und sich selbst Auskünfte und Tipps einholen. Für Frauen hat eine zunächst anonyme Beratung den Vorteil, dass sie zu keinen weiteren Handlungsschritten verpflichtet werden. Klingt paradox, weil doch alle Frauen immer am Besten sofort gehen sollten? Man sollte wissen, dass Frauen bei Partnerschaftsgewalt statistisch bis zu sieben Anläufe brauchen, um sich endgültig zu trennen. Nicht weil sie schwach sind, sondern weil Täter hochmanipulativ sind, weil finanzielle Gewalt Frauen an den Täter bindet, weil gemeinsame Kinder in der Regel dazu führen, dass Familiengerichte Frauen in den Kontakt mit ihren Tätern zwingen und diese sich an den Kindern rächen könnten, weil Täter mit Suizid und Mord drohen… Es gibt unzählige Gründe mehr, warum Frauen bleiben. Keiner davon ist mit fehlender Courage begründet. Wenn eine Frau weiß, sie kann sich beim Hilfetelefon erst einmal anonym beraten lassen, kann das ein Geschenk sein, sich zu trauen, zum ersten Mal mehr zu erzählen.
Örtliche Hilfestellen kennen. Gibt es einen Frauennotruf in Stadt oder Nachbargemeinde? Welche Vereine bieten Beratungsstellen an? Gibt es ein nahes Frauenhaus? Wer diese Fragen beantworten kann und Adressen parat hat, kann einen Unterschied machen. Gewalterfahrung zusätzlich zum Alltagsstress und dem Druck, trotzdem im Job und oder als Mutter funktionieren zu müssen, raubt mentale Kapazitäten. Die Frauen haben oft einfach nicht den Kopf, diese Adressen selbst zu recherchieren. Hinzu kommen Täter, die regelmäßig Handys, Chatverläufe, Browserverlauf und alles Material im Haus dahingehend untersuchen, ob die Frau sich Hilfe holt. Ein guter Tipp sind auch getarnte Hilfe-Apps für Frauen bei Gewalt wie Gewaltfrei in die Zukunft (Mehr unter www.gewaltfrei-in-die-zukunft.de). Die getarnte App ist für Täter nicht als Hilfe-Tool erkennbar und sie ist nicht frei im App-Store verfügbar, sondern wird über registrierte Hilfestellen geschützt in Berlin, Hannover, Oldenburg und Braunschweig an von Partnerschaftgewalt betroffene Frauen vergeben.
Nichts verraten. Nicht Kindern, nicht unsicheren Dritten und nicht dem Täter. Kinder erleben und spüren Gewalt immer mit. Doch je nach Alter können sie oft nicht benennen, was da passiert. Wenn Frauen Kinder über eine anstehende Flucht in ein Frauenhaus oder eine Trennung informieren, ist die Gefahr groß, dass diese sich beim Täter verplappern. Machmal kann das allen das Leben kosten. Leider ist auch nicht jeder Kontakt außen sicher. Der beste Freund des Partners, seine Familie, aber auch Nachbarn oder gemeinsame Freunde stellen unter Umständen ein Sicherheitsrisiko dar, wenn sie ins Vertrauen gezogen werden. Dem Täter gegenüber sollte eine Flucht oder eine Trennung niemals vorher angekündigt werden. Viele Täter drehen dann auf mit großen Gesten und manipulieren die Frauen zum Bleiben, nur um dann noch gewalttätiger zu werden. Andere töten in diesen Momenten in blinder Wut über den Kontrollverlust. Der beste Zeitpunkt zu gehen, ist wenn ein Täter nicht zuhause ist und nicht damit rechnet.
Die Polizei involvieren. Üben Täter Gewalt aus, dann können betroffene Frauen eine zeitweise Wegweisung durch die Polizei erwirken. Diese erfolgen 24 Stunden bis zu 10 Tage, können aber bei entsprechendem Antrag bei Gericht ausgeweitet werden auf bis zu 6 Monate und mit einem Näherungs- und Kontaktverbot kombiniert werden. Achtung: Bei gemeinsamen Kindern gilt das meist nicht mit für die Kinder und die Betroffene muss dem Täter in einer Vielzahl der Fälle weiter Kontakt zu den Kindern ermöglichen. Auf dieses Sicherheitsrisiko sollten Frauen vorbereitet sein.
Fluchtorte suchen. In vielen Fällen müssen Frauen fliehen. Oft dann, wenn der Täter für ein paar Stunden weg ist und die Flucht nicht mitbekommt. Haben Frauen für diesen Ernstfall einen Notfallkontakt, der bereits im Bilde ist, keine langen Erklärungen braucht und sie fährt, die Kinder nachts mit ins Auto packt, ein paar erste Nächte Unterschlupf bietet, ist das Gold wert. Wenn Frauen aus Gewalt fliehen, sind solche Täter zu allem in der Lage. Die eigenen Eltern oder die beste Freundin ist als Unterkunft daher womöglich nicht die beste Wahl, um sich und andere nicht zu gefährden. Stattdessen sollten Frauen eine Unterbringung in einem Frauenhaus in Erwägung ziehen. Unter www.frauenhaus-suche.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) werden deutschlandweit freie Plätze und die entsprechenden Häuser und Kontakte angezeigt. Eine gemeinsame Suche nach der potentiellen Option eines aufnahmefähigen Frauenhauses kann für Frauen ein erster Schritt sein, sich selbst nach dem Gespräch dorthin zu wenden. Sofort oder in ein paar Wochen.
Dokumente sichern. Den eigenen Pass, die Ausweise der Kinder, Krankenkassenkarten, einen Ordner mit allen wichtigen Verträgen und Unterlagen, wichtige Bankdokumente, den Mietvertrag, den Kaufvertrag fürs Haus – je mehr wichtige Dokumente Frau lückenlos (in Kopie oder im Original) hat, desto sicherer und reibungsloser kann sie sich hinterher vor (finanzieller) Nachtrennungsgewalt und in den Gerichtsverfahren schützen. Es ist logisch: Verlieren Täter den direkten Zugriff, suchen sie nach Wegen, um sich zu rächen. Oft passiert das über die Finanzen. Wer die letzten 12 Lohnabrechnungen des Partners in Kopie besitzt, kann sicherstellen, dass er den regulären Kindesunterhalt leisten muss. Gut zu wissen: 50 Prozent der Trennungsväter in Deutschland zahlen keinen Unterhalt, weitere 25 Prozent tricksen erfolgreich beim Unterhalt und bezahlen weniger als sie müssten.
Fluchttasche denken und packen. Manchmal fliehen Frauen und Kinder mit dem, was sie bei sich tragen und kommen nie wieder an ihre Gegenstände und Erinnerungen im eigenen Zuhause. Wer sich von einem Täter trennen will, also eine Flucht plant, sollte vorab überlegen, was unbedingt mitmuss. Wichtiges und Unwichtiges. Das liebste Kuscheltier genauso wie alle Dokumente, Handy, Ladekabel und Notebook. Wer Fotoalben oder Erinnerungen retten will, kann sie vielleicht vorher unbemerkt an Freunde geben zum Verwahren. Viele Frauen berichten, dass sie bei einer Flucht alles verlieren, das für sie von Bedeutung war.
Bonus-Tipp zum Weitergeben: Vorsorge für die eigenen Finanzen. Bei gemeinsamen Konten lassen Täter oft die Konten sperren oder räumen sie leer. Das gilt auch für Konten und Karten von ihr, auf die er Zugriff hat. Vorbereitend sollten gewaltbetroffene Frauen ein kleines Sicherheitspolster auf ein eigenes Konto legen. Manchmal muss der Frauenhausplatz selbst bezahlt werden, manchmal sind ein paar Nächte im Hotel nötig. Häufig verlieren Frauen den Zugriff auf das Familienkonto. Bitte aufpassen: Die Konten der Kinder sind nicht sicher. Ohne Zustimmung des anderen Elternteils können Mütter dort nicht alleine zugreifen. Wer kann, sorgt vor. Auch verstecktes Bargeld hilft, sowie die Pins und Zugriffsdaten für Konten und Handy zu ändern.
Wer diese Tipps kennt, wird nicht automatisch zur perfekten Hilfestelle. Selten dauern Gespräche auch lange genug, um alle Punkte anzusprechen und weiterzugeben. Manchmal ist es nur ein erstes Zuhören und Glauben schenken, doch auch das führt für die Betroffenen von Gewalt irgendwann zu mehr. Egal ob Fachkraft oder Privatperson – diese Tipps schaffen eine Basis für von Gewalt betroffene Frauen, um weitere, sichere Schritte zu planen.
Wer viel mit Frauen zu tun hat im Berufsalltag, sollte wissen, dass er oder sie eine potentielle Erstkontaktstelle ist, die einen Unterschied machen kann.