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What Art does - Teil 4: “Sozialer Realismus” versus “Pop“

Es geht immer noch um Brian Eno. Oder um das, wo man landet, wenn man seine recht pragmatische verzichtende Konzeption von „what art does“ ernst nimmt. Darum, wie - das ist Element seines Ansatzes - auch wechselseitige Perspektivenübernahmen in TV-Serien, in Romanen, in Songs oder bildender Kunst möglich werden, sehr häufig aber auch in „Othering“ münden.

Im letzten Teil landete ich bei der Literatur von Manuel Puig, James R. Baker und Edouard Louis, um das diskutieren zu können. Manuel Puig und James R. Baker spielend dabei mit popkulturellen Elementen, mit Film - gerade nicht die Arthouse-Variante - und Musik. Edouard Louis nicht. Obwohl er sich gerade bei Instagram vor einem Kino präsentierte, in dem „Maurice (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ gezeigt wurde. Ein schwuler Klassiker mit Hugh Grant in einer Hauptrolle aus dem Jahr 1987. Er führt nun Veranstaltungen mit Laurie Anderson durch und nimmt Bezug auf Robert Mapplethorpe - Fotograf auch von BDSM-Szenarien im New Yorker Gay-Underground der 70er Jahre und eng mit Patti Smith befreundet. Ansonsten ist sein Thema jedoch die Herkunft aus dem nordfranzösischen Arbeiter*innenmilieu der 90er und Nullerjahre. Es geht um Folgenden also darum, was Kunst aus sozialen Positionierungen in einem ökonomischen wie auch kulturellen Feld macht. Brian Eno deutet das an, vertieft es aber nicht so, wie klassisch linke Ansätze es tun würden.

Ein Beispiel: In der Netflix-Verfilmung von Armistead Maupins Fortsetzung der legendären „Stadtgeschichten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ erscheint plötzlich und unvermittelt eine Szene, in der ein junger schwarzer Gay zum eleganten Essen bei etablierten Teilen der LGBT*-Community eingeladen sich an reich gedeckter Tafel wiederfindet. Es kommt das Thema Rassismus bzw. eine Okkupation schwuler Perspektiven durch Weiße zur Sprache. Die Älteren verlieren die Fassung. Sie können es kaum glauben, dass IHNEN Rassismus vorgeworfen wird. Der aber doch, so scheint es im Dialog auf, in der ganzen Szene überall wirkt. SIE hätten doch AIDS überlebt, sich für Act Up engagiert, hätten Reagan überstanden und überhaupt erst Raum für schwule Sichtbarkeit geschaffen und zugleich so etwas wie eine ökonomische Basis für die Community. Ich weiß noch nicht mal mehr, ob sie das wirklich so sagen. Ich habe die Szene nicht noch mal angeschaut. Ich erinnere es so, und das macht Kunst halt auch: dass man erinnert, was sich im eigenen Leben kontextualisieren lässt. Der Konflikt, der aufbricht, entwickelt sich in diese Richtung: da sind welche, die aus ihrer Sicht Freiräume geschaffen haben, und dann kommt jemand und bezeichnet sie als Teil eines Unterdrückungssystems. Eine weiße Heterofreundin von mir, in schwulen Clubs Londons sozialisiert, berichtete mir davon, dass sie bei der Szene völlig aus der Fassung geriet. Sie sprengt ein soziales Schema auf, eine dominante Sichtweise, und das mit Mitteln des Dialogs. Das macht Kunst, wenn sie gut ist. Es handelt sich explizit auch eine Selbstkritik Maupins, des Autor der „Stadtgeschichten“. Weil in seinen Büchern schwarze Menschen kaum auftauchen.

Diese Art des Konfliktes zieht sich durch das letzte Jahrzehnt wie ein roter Faden; vor allem, aber nicht nur in linken und progressiven Szenen. Man kann sogar die Wahl Trumps als eine Reaktion darauf verstehen. Was, WIR als MAGA haben das alles mitgemacht, die Aufhebung der Segregation, die Legalisierung von homosexuellen Praxen, sogar die „Homo-Ehe“, ja, wir haben dagegen geklagt, aber es dann doch halbwegs ertragen - oder dann kommt IHR mit dieser ganzen Genderscheiße und „Critical Race Theory“, während UNSERE Leute im Rust Belt leben wie die Tiere? Jetzt ist aber mal Schluss. Jetzt wird das Rad der Zeit zurück gedreht. Von EUCH lassen wir uns nichts mehr vorschreiben.

Edouard Louis sehnt sich am Ende seines 5. Romanes „Anleitung, ein Anderer zu werden“ nach den Gerüchen seiner Kindheit und Jugend zurück. Also der Zeit, da er - wie im letzten Teil dieser Reihe anhand von seinem Erstling, „Das Ende von Eddy“, geschildert - in der Schule verprügelt wurde. Als sein Vater ihn zwang, Horrorfilme zu gucken, damit er sich emotional abhärte. Als er davon träumte, auch ein Mofa zu haben, um zum McDonalds beim nächsten Kaff in Frankreichs Norden zu fahren. So endet „Anleitung, ein Anderer zu werden“.

Ich bin immer noch bei Brian Eno. Den über Funktionalität hinaus weisenden ästhetischen Codes des Alltags, die er als Kunst betrachtet. Mac Donalds ist funktional, die literarische Verarbeitung des Traums, mit dem Mofa dorthin zu fahren, eben Kunst. Louis spielt kulturelle Codes recht schematisch durch in „Anleitung, ein Anderer zu werden“. Diese „feinen Unterschiede“, die Pierre Bourdieu in seinem Hauptwerk analysierte, sind sein Thema. Die einen wissen, wie man das Besteck bei einem Mehrgänge-Menü benutzt, die anderen nicht. Die einen verfügen über das Wissen und die Schulung, eine Wagner-Oper durchzustehen, haben gelernt, wie man sie decodiert. Die Anderen dürfen oder wollen das nicht lernen. Manche können sich im 5-Sterne-Hotel bewegen, manche nicht. Ich weiß das als Bürgermeistersohn auch nur dann, wenn ich in solchen beruflich unterwegs bin. So eine Fernsehkamera an meiner Seite schafft dafür Raum.

Diese symbolisch aufgeladenen Alltagsästhetiken sind durchdrungen von sozialer Hierarchiebildung. Louis schildert den Prozess der Aneignung von Bildung und Hochkultur, der ihm zugleich ein offen schwules Leben ermöglichte. Schwul leben zu können zeichnet er als eine Aneignung des kulturellen Kapitals und seine Verwandlung aufgrund dessen - was gleichzeitig eine Distanzierung vom homophoben Herkunftsmilieu bedeutete.

Deshalb taucht auch fast nur klassische Musik in „Anleitung, ein anderer zu werden“ auf. Kein Bronski Beat, keine Pet Shop Boys, kein ESC. Nicht Years & Years, nicht Charlie XCX, keine Soap Opera und ausschließlich Arthouse-Kino.

Molina erzählt in „Der Kuss der Spinnenfrau“, beschrieben in den letzten Teilen, im argentinischen Knast der 70er Jahre ihrem Mithäftling Valentin von Melodramen, Zombie- und Horrorfilmen. „Cat People (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ zum Beispiel - die Heldin des Films könnte sich in einen Panther verwandeln, wenn sie liebt und Sex will. Molina findet hier ein Modell für gefährliches Begehren - auch das eigene.

Es ist jene cineastische Welt, in der noch Fassbinders Filme spielen. Oder die von Todd Haynes, der mit „Dem Himmel so fern“ einen der wohl beeindruckendsten Filme zu Thema Rassismus und Schwulenfeindlichkeit gedreht hat. Haynes kopiert bis ins Detail die filmischen Techniken des Meisters der Melodramen, Douglas Sirk (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) . Dieser diente auch Fassbinder als Vorbild. Der Plot: Julianne Moore spielt eine Vorstadtmutter in den USA der 50er Jahre. Sie wird von ihrem Mann verlassen - gespielt von Dennis Quaid. Weil dieser schwul ist und mit Männern lieben will. Sie verliebt sich derweil in den schwarzen Sohn ihres verstorbenen Gärtners. Der Geliebte gerät jedoch in Panik. Er hat kein Interesse daran, gelyncht zu werden. Schwarzer Mann und weiße Frau: das ging in den 50ern Jahren gar nicht. Die niederschmetternde Faszination des Filmes ergibt sich gerade daraus, das mit Mitteln des Kitsches eine brutale soziale Realität entborgen wird und sich so in ihrer ganzen Grausamkeit entfaltet. Auch, weil die ganz naiv ihren Gefühlen folgende, von Julianne Moore gespielte weibliche Hauptfigur nicht bemerkt, in was für eine tödliche Gefahr sie den Schwarzen bringt. Man muss nur die Historie zu „Strange Fruit (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ von Billie Holiday recherchieren, um zu verstehen, worum es geht .

Ich weiß nicht, ob irgendwo im Werk von Edouard Louis das New Queer Cinema - Todd Haynes gehörte zu dessen wichtigsten Vertretern - oder ein Popsong wie „It’s a Sin“ oder „Born this way“ in welcher Fassung auch immer auftaucht, Sylvesters „You make me feel mighty real“ oder „Montero“ von Lil Nas X. Er schildert, wie er Casting Shows als Kind schaute, um dem dort inszenierte Traum vom Ruhm innerlich zu folgen - aber nicht, wer dort auftrat oder was gesungen wurde. Am Anfang von „Anleitung, ein anderer zu sein“ schildert er eine Szene, in der er auf dem Gymnasium als Polit-Aktivist in der Talkshow eines regionalen TV-Senders gegen Rassismus agitiert. Er deutet es vor allem als Abgrenzung gegen sein Herkunftsmilieu, in dem Rassismus zu Alltag gehöre. Jenem Milieu, zu dem er am Ende des Romans so gerne zurück möchte. Er stellt keinen Bezug zu Lebenswelten schwarzer Menschen in Frankreich her.

Ich bin immer noch bei Brian Eno. Bei der Frage nach der Kultivierung des Gegebenen als zentral für künstlerische Praxen, die ich im ersten Teil dieser Textserie ausführte - damit jedoch auch jener, welche Rolle ein sozialer Realismus in den Künsten spielen kann. Und ebenso bei der Suche nach der Dimension der Künste, die Welten erschaffen kann, wenn sie will - um das Gegebene zu transzendieren.

Ist Abbilden schon Kritik? Hätte Tod Haynes „Dem Himmel so fern“ quasi-dokumentarisch mit Mittel des „Direct Cinema“, schnörkellos ohne Effekte oder starke Nachbearbeitung, gedreht, könnte dieser dann die gleiche Wirkung auf Zuschauer*innen entfalten?

Was hat Jean Genet, den Kleinkriminellen, der durch Pflegefamilien gereicht wurde, diese bestahl, als Landstreicher verurteilt und als Deserteur inhaftiert wurde und später erneut wegen Diebstahls einsaß, insgesamt mehr als 10 Mal im Gefängnis landete, dazu bewegt, hochpoetisch den Penis von Liebhabern in seinen Romanen zu schildern - oder auch hochkultiviert im Sinne nicht etwa von verbürgerlicht, sondern des Artifiziellen, Alltagssprache Übersteigenden und sie so Verwandelnden? Was treibt Molina im „Kuss der Spinnenfrau“ ins Kino ? Aufstiegsträume waren das nicht. Es trieb sie die Flucht und die Möglichkeit, lieben zu lernen. Was animierte James R. Baker in seinen Teenie-Zeiten in den 60ern dazu , zu den Beatniks vor dem durch die US-Republikaner geprägten Umfeld seiner Jugend zu flüchten, Menschen, die hochartifizielle Psychedelic-Literatur verfassten, um in illegalen Underground-Gay-Clubs zum „Teenage Speed Freak“ (Selbstzeugnis des Autors) zu mutieren?

Das verweist auf Dimensionen der Künste, die Brian Eno ignoriert. Er zeigt zwar auf, wie Kunst uns lehrt, was wir mögen und was nicht, wie sie sich der Funktionalität entzieht, wie sie soziale Differenzen modelliert und Welten - oder Ausschnitte davon - entwirft. Aber er unterscheidet zum einen nicht zwischen U und E und zum anderen referiert er, selbst Popmusiker, nicht, auf was für kunst-und kulturhistorische Konstellationen sich Werke beziehen, wie sie diese wahlweise weiterzuentwickeln versuchen oder sich dagegen positionieren, sie modulieren, transformieren oder ignorieren. Oder auch umdeuten. Nicht nur in der Literatur. Aber auch da. In ihr wie auch in der bildenden Kunst wurden lange Zeit lineare Entwicklungslinien rekonstruiert mit Künstlern wie Flaubert oder Cézanne als Zäsuren, die eine neue Ära einleiteten - analog im Theater Tschechow oder Beckett.

Eno selbst gehörte zu denen, die - in seinem Fall als Mitglied von Roxy Music - zu Zeiten des frühen Glamrock, ähnlich wie Bowie, einen äußerst fantasievollen Gender Trouble veranstalteten. Ziggy Stardurst und seine Spinnen vom Mars lieferten eine Science Fiction-Story. Sein Top of the Pops-Auftritt mit „Starman (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ hat eine ganze Generation von Musikern geprägt. Der initiierte ein Erweckungserlebnis für Neil Tennant von den Pet Shop Boys und viele andere, auch nachfolgende Generationen. Guckt man Dokumentationen zur britischen Popmusik, dann taucht in Interviews immer wieder diese Szene auf - Bowie bei Top of the Pops. Der gesamte Synthie Pop der 80er Jahre, der heute noch bei CSD-Demos aus Boxen erschallt, auch die New Romantics, „Fade To Grey“ zum Beispiel, bauten darauf auf.

Betrachtet man vieles in queeren Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts, so ist der Bruch mit der Kunstgeschichte mit Hilfe von Pop-Stilistiken unübersehbar. Warhol, Pierre & Gilles, „The Living end“ von Gregg Araki. Außer mit der Oper. Derart kultiviert und hochartifiziell angelegt, tummelten sich Schwule in dieser Ästhetik. Auch François Louis schildert in „Anleitung, ein Anderer zu werden“, wie er in der Oper einer Inszenierung lauscht und nun, frei nach Bourdieu, sich zum Bürgerlichen zugehörig gefühlt habe. Er deutet sie jedoch lediglich als Teil sozialer Distinktion mit Hilfe schöner Musik im prachtvollen Setting.

Ich denke bei Oper eher daran, dass Puccinis „Turandot“ mit all den hübschen Prinzen in schwulen Underground-Filmen zitiert wurde. Mir fällt nur der Titel des Films nicht mehr ein. Dass Wagner-Opern noch in meiner Generation als Tummelplatz für Schwule im Publikum galten. Dass wir die „Callas“ hörten, nicht aus Bildungsbürgergeflissenheit, sondern weil die ungeheure Dramatik ihrer Stimme ein Role Model für unerlöstes Begehren akustisch artikulierte. Daran, wie Klaus Nomi, der an den Folgen von AIDS verstarb, eigentlich wie die Callas sein wollte.

Ansonsten brechen queere Künste jedoch häufig mit Kunstgeschichte, sei diese selbst auch noch so queer durchdrungen. Die Bezugnahmen in „Der Kuss der Spinnenfrau“ oder „Tim and Pete“, siehe letzter Teil, sind Pop- und Subkulturkosmen entnommen - zählt man Horrorfilme im Kino der 30er und 40er Jahre mit zu Popkultur. Ob Jasper Johns, Robert Rauschenberg oder Andy Warhol - sie machten sich mit hochartifiziellen, anti-authentischen Mitteln über die Kunstgeschichte als bürgerliche Showveranstaltung lustig. Johns, indem er mit US-Flaggen aus wachshaltigem Material noch den von Clement Greenberg gefeierten abstrakten Expressionisten etwas völlig Neues entgegen stellte, das sich dem Ausdruck verweigerte. Rauschenberg, indem er mit Collagen aus Zeitschriften Neues bastelte und Hochkulturvorstellungen unterlief. Warhol, indem er Dollarnoten und Marilyn Monroe druckte und letztere noch ein wenig mit Drag versah; damit das Galeriensystem gleichzeitig sprengte und eroberte. Indem er Diskurse rund um Kunst implodieren ließ.

Ich verstehe nicht, wieso Louis all das ignoriert - soweit ich es überblicke. Man kann es als Bildungsbürgerwissen abtun. Oder als Keimzelle queerer Subulturen, was Warhols Factory zweifelsohne war. Ja, okay, mittlerweile ist Laurie Anderson ja mit im Spiel an seiner Seite. Sie lebte mit Lou Reed zusammen, der als Teil von „Velvet Underground“ Teil der Factory war.

Ich gebe ja zu, ganz wie die wohlsituierten Gays in „Stadtgeschichten“ auch persönlich beleidigt zu sein. Da wird so ein Literat 1992 geboren, als ich rund um AIDS-Tests glaubte, kurz vor der Psychose zu stehen, auch wenn sie alle negativ ausfielen. Ich hatte unter sozialen Bedingungen ein Coming Out zu verleben, als außer Bronski Beat es so gut wie gar keine Repräsentation von Schwulen in Medien gab. 1993, ein Jahr, nachdem Louis geboren wurde, freute ich mich über einen fantastischen Dr. Sommer-Beitrag zu „Homosexualität“ in BRAVO TV. Im Falle von Boygroups feierten wir in einem durchaus auch schwulen Team im Rahmen der Sendung Homoerotik. Ich bin mir auch sicher, dass wir mit BRAVO TV mehr Kids aus Arbeitersiedlungen erreichten als Didier Eribon. Das war einer der Gründe, aus dem Philosophieseminar in diese Redaktion zu purzeln. Daran glaubte ich mehr, als nun Flugblätter zu verteilen. Ja, reiner Kommerz, aber die Revolution schien mir fern.

2004 wagten wir in „Sex’n’Pop“ eine ganze Folge zur Geschichte queerer Popmusik für ARTE - das zumindest hätte sich Louis ruhig auch mal angucken können. Oder TRACKS, das ARTE-Popkulturmagazin. Da bekam ich Ärger, wenn ich als Leitung eines Teils der Sendungen zu viele „queere Themen“ einplante, weil wieder irgendein Bischof Rundbriefe an ZDF-Redaktionen verfasst hatte, dass so etwas sündig sei. TRACKS lief ja nun auch in Frankreich. Vermutlich lagen Casting Shows näher, ist ja auch okay, weil TRACKS zumindest teilweise auf Distinktion setzte. Berichte über die Auswirkungen von Hartz IV auf die deutsche Kulturszene und Musikprojekte im Jugendknast habe ich aber durchgesetzt. Dass diese gesamte Popwelt in seinen Werken gar nicht auftaucht, zumindest so weit ich sie gelesen habe, das verstört mich schon.

Für mich sind diese Popbezüge im Emanzipatorischen nichts gewesen, was ich mir hätte anlesen müssen. Es gab ja nur das. Klar, Hochkultur auch, aber das erschien mir zu weit entfernt vom schwulen Leben, das ich führen wollte. Okay, einmal im Jahr gab eine überschaubare „Stonewall Demo“. Kontaktanzeigen. Saunen und Cruising im Stadtpark gefielen mir persönlich nicht. Die Kneipen, die Clubs, „Schmidt’s Tivoli“, Georgette Dee, die Pet Shop Boys und Marc Almond zeigten mir Wege auf. Das wählte ich auch nicht aus Distinktionswille, ganz im Gegenteil - den Leuten gegenüber, die Sonic Youth, die Einstürzenden Neubauten, Grunge oder die Hamburger Schule hörten, musste man sich eher rechtfertigen, wenn man zu der Army of Lovers oder den Backstreet Boys auf die Tanzfläche hastete und kurz mal glücklich war.

Klar habe ich parallel auch meinen Foucault gelesen. Rund um „woke“ gab es oft die Diskussion der „Sprecherpositionen“. Und „check your privilege!“. In Enos Konzeption taucht das indirekt auf. Darüber machten sich Linke gerne lustig - wie ich finde, zu Unrecht. Im letzten Teil dieser Textreihe habe ich deshalb meine Herkunftsfamilie ausgebreitet. Um meine Sprecherposition deutlich zu machen.

Ich kommentiere hier die Werke von jemandem, der aus erheblich deklassierteren Milieus stammt und das zu einem Zeitpunkt, als die Neue Rechte, Le Pen, schon sehr deutlich Wirkung zeigte in Frankreich. Ich hatte es vermutlich anders als Louis psychologisch auch nicht nötig, so, wie er es in „Anleitung ein anderer zu werden“ beschreibt, zur Überwindung der Prägungen des Herkunftsmilieus nun unbedingt das beste Abitur machen zu müssen, so what, 2,7 wurde es, und hätte das vermutlich auch gar nicht geschafft. Zudem meine Noten im Coming Out Prozess erheblich absackten. Ich ging auf eine Massenuniversität und musste nicht diese ungeheure Leistung vollbringen, auf der „Ècole normal superieur“ aufgenommen werden, wie es Edouard Louis gelang. In Deutschland sind die sozialen Strukturen zudem ein wenig durchlässiger als in Frankreich. Im Falle der Lektüre Michel Foucaults lagen für mich die Einstiegshürden niedriger. Beide Eltern verfügten auch über ein akademisches Umfeld. Bestimmte Codes musste ich nicht erst lernen . Hat mich trotzdem Jahre meines Lebens gekostet, Foucault zu verstehen.

Es ist bestimmt auch leichter für den Sohn eines Richters und einer Therapeutin, auf Pop statt als auf Hochkultur zu setzen. Ein bestimmter sozialer Status muss nicht erst erkämpft werden. Man kann ihn auch ironisieren, unterlaufen, mit ihm spielen. Für Louis war offenkundig der Weg in „höhere Sphären“ der Kultur notwendig, und in seinen Büchern beschreibt er den hohen Preis, der dafür zu zahlen war.

Dass er dennoch komplett nicht-akademische, popkulturelle Vorreiter der Möglichkeit eines offenen schwulen Lebens ignoriert, das verstört mich dennoch.

Edouard Louis ist Teil der „3“. Wie im letzten Teil erwähnt sind das Didier Eribon, Edouard Louis und zudem noch Geoffroy de Lagasnerie. Politisch sympathisiere ich mit allen dreien. De Lagasnerie lehrt als Philosoph und Soziologe in Paris, hat Bücher zu Edward Snowden, Chelsea Manning und Julian Assange veröffentlicht, auch zum Denken in einer schlechten Welt. Er wurde von der französischen Gay-Illustrierten „Têtu“ jüngst zu seinem neuesten Werk über das System der Repression interviewt und verfasste ein den Rezensionen zufolge sehr gutes Buch über die Freundschaft der „3“. In diesem geißelt er den Familianismus (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) . Eine rechtlich abgesicherte und normativ wirksame Machtkonfiguration also, die Familie als Lebensform anderen Modellen gegenüber privilegiert. Ganz in den Fussstapfen Foucaults proklamiert er stattdessen die Freundschaft als Alternative, auch, weil sie sich nicht nur um Reproduktion gruppiert.

Für die Künste ist das nicht nebensächlich. Eno skizziert in „what art does“ keine konkreten Lebensformen. Er stellt lediglich die These auf, dass Ästhetiken diese prägen und ggf. auch entwerfen. Vom Kindergeburtstagskuchen über Wohnungeinrichtungen, ja, auch Wohnungsgrundrisse prägt Familianismus das Alltagsleben. Es gibt auch kaum Formen - außer auf manchen Bauernhöfen -, in denen Arbeit und Wohnen noch zusammenwirken.

Ganze Serien spielen in Familienkonstellationen. Mir fällt interessanterweise nur „Diese Drombuschs“ auf Anhieb ein. Weil ich so was nicht gucke. Doch, aktuell „Crystal Wall“ im ZDF, wegen des bezaubernden Gustav Schmidt. In fast jedem Krimi bildet familiärer Background Subplots. Interessanterweise erzählen, ohne ebenso populär zu sein, die Geschichten von Rock- und Pop-Bands „Ersatzfamilien“-Stories.

Die eingangs erwähnten „Stadtgeschichten“ von Maupin erlangten deshalb legendären Status, weil in den Bänden dieser Reihe eine andere Konstellation als die der Familie rund um ein Wohnhaus in San Francisco erfunden wurde. Maupin hat auch trans und AIDS sehr früh thematisiert. Belletristik ansonsten ist DER Ort für Famlienhistorien, besonders im Bürgertum - so z.B. in den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Klaus Mann wich da aus; er erkundete schwule andere Subkulturen, verfasste Reiseromane.

Und was schreibet Didier Eribon nun neben dem im letzten Teil erwähnten „Zurück nach Reims“? „Eine Arbeiterin“, soziologisch belehrt über seine Mutter. Und Edouard Louis? „Monique bricht aus“, „Die Freiheit einer Frau“, ebenfalls über seine Mutter und „Wer hat meinen Vater umgebracht“. Sie schreiben diese Bücher in ganz honoriger Absicht, damit auch Biographien von Arbeiter*innen im Literaturgeschäft Präsenz gewinnen. Aber ist das nicht auch Familianismus? Ja, sie betten es in die Klassenfrage ein, ich weiß.

Eribon hat auch ein Werk zur „Schwulenfrage“ verfasst. Das beginnt mit den Worten „Am Anfang war die Beleidigung“. Wie bitte? Ich habe dann nicht weiter gelesen. Bei mir stand am Anfang, dass ich ganz konkrete Individuen des männlichen Geschlechts schön und anziehend fand, dass ich Zeit mit ihnen verbringen wollte, dass ich irgendwann das Bedürfnis spürte, mich ihnen auch körperlich annähern zu wollen und Erregungspotenziale sich herausbildeten. DANN irgendwann merkte ich, dass es Beleidigungen gab, die genau das abwerteten.

Aber Scham scheint zentrales Thema bei den „3“ zu sein. Das habe ich auch nicht abzuwerten, und völlig fremd ist sie mir auch nicht.

Dennoch: für Kunstproduktion sich zu schämen finde ich sogar gefährlich. Geoffroy de Lagasnerie sieht das anders und verfasste ein Buch mit Titel „Die Kunst der Revolte (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ , das sich explizit auch als Ästhetik zum Werk von Edouard Louis begreift. Das verwendet zum Einstieg - maximales Erpressungspotenzial - einen Text von Marguerite Duras mit dem Titel „Der Schmerz“. Ein Tagebuch, das sie zu Zeiten der Deportation ihres Mannes in ein Konzentrationslager verfasste. Sie wartete auf dessen Rückkehr. Sie beschreibt ihren Schmerz; dass sie angesichts dieser Gefühle das Verfassen von Literatur als beschämend empfände

„Bei der Scham, von der Duras spricht, handelt es sich um eine ihrem Wesen nach zutiefst moralische Erfahrung, die alle Kunst und Kulturschaffenden machen, wenn sie sich dem Mahnruf der Ethik stellen müssen. (…) Entweder sie versuchen, dem ethischen Appell gerecht zu werden, und handeln dementsprechend oder sie ignorieren die Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, gehen ihrer künstlerischen Tätigkeit weiterhin in bereits instituierten Formen nach – ganz so, als wäre nichts gewesen – und entfliehen somit ihrer Verantwortung.“

Geoffroy de Lagasnerie, Die Kunst der Revolte

Das ist die wohl oft so beklagte „Moralisierung“ von Kunst. Ich habe in einem der vorherigen Teile die „Autonomie der Kunst“ unvollständig als Abstrahieren von konkreten Gegenständen und Motiven in der Malerei eingeführt. Das ist nur eine Dimension. Nicht minder wichtig war vielen Künstler*innen historisch ihre Autonomie von moralischen Urteilen, und, im Falle von Fiction, auch von Wahrheit. De Lagasnerie formuliert hier ziemlich deutlich eine Gegenthese. Aber ist sie plausibel? Klassischerweise haben linke Kunstansätze Moral auch eher als Mittel christlicher oder bürgerlicher Herrschaft begriffen. Erst käme das Brot, dann die Morall, so Bertolt Brecht.


Angesichts des Grauens der Gegenwart in Kriegen, Genoziden, Deportationen und totalitären Bestrebungen könne man sich doch nicht in die Galerie, die Oper und die schöne Literatur zurückziehen! Das meint de Lagasnierie wohl. Sein Buch proklamiert einen quasi-dokumentarischen Realismus, wie er z.B. in den Werken von Edouard Louis sich zeige. De Lagasnerie selbst hat eine eher bürgerliche Biographie, nebenbei erwähnt. Wirklichkeit und Machtverhältnisse seien so zu beschreiben, wie sie wirklich sind. Um so die Scham zu lindern, die man empfände, wenn man mit Kunst etwas macht. Die ich selbst bei noch keiner einzigen kreativen Tätigkeit verspürte. Vielleicht ist das ja soziopathisch

Aber was ändert sich, wenn man nur abbildet? Was bewirkt es, wenn Eimsbütteler Lehrer ins Theater pilgern, um von Edouard Louis zu hören, wie Eddy auf die Schnauze bekommt? Die Annahme ist wohl, dass die auf Leiden gerichtete Aufmerksamkeit dazu animieren würde, das Leiden zu beenden. Passiert allerdings auch dann nicht, wenn massenhaft ganz reale Bilder toter Kinder in sozialen Medien zirkulieren. Es stumpft eher ab.

Die „Stadtgeschichten“ von Maupin, siehe oben, sind nicht anti- oder surrealistisch angelegt und literarisch wenig durchgestaltet, eher einer Art Soap, sie begannen als Forsetzungsroman in einer Zeitung, schlicht, populär - sie vermochten jedoch, vielen queeren Lesern andere Lebensformen als die der Familie zu vermitteln. „Sense 8“, eine Serie von den Wachowski-Schwestern bei Netflix, schafft es es, inmitten von hochartifiziellen Martial Arts- und Sci-Fi-Ästhethiken dem brutalen Homo Sapiens den einfühlenden, Cluster bildenden „Homo Sensorium“ gegenüberzustellen in einer queeren Utopie. James R. Baker zeichnet durchaus realistisch, wenn auch ziemlich überdreht, das L.A. zu Zeiten von AIDS und die Hetze der Republikaner gegen Schwule - und wählt dabei die Perspektive ziemlich zerrissener Protagonisten der sexuellen Subkultur. Aus dieser Sicht werden die Mehrheitsgesellschaft und ihre Riten verfremdet. „Der Kuss der Spinnenfrau“ zeichnet die brutalen Verhältnisse in einem argentinischen Gefängnis der 70er Jahre nach und zugleich das, was wenigstens im Geiste heraus führt: die Imagination des Kinos.

Ich habe gerade neu eingespielte Musik, die im Internierungslager von Gurs unweit der Pyrenäen komponiert wurde, von Mélina Burlaud (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zugesandt bekommen. Ergreifende Klänge mit Titeln, aus denen die Deportation nach Auschwitz-Birkenau klar hervorgeht. Das taten Nazis und ihrer Helfer*innen vielen Menschen dort nach 1940 an. Andere Stücke, die Mélina Burlaud neu aufgenommen hat, erklingen ermutigend, fast schön. Soll man nun nur die Gaskammern zeigen und nicht die Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen im Bezug auf Welten, wo diese nicht existieren? Man muss immer neu an sie erinnern. Aber wie macht das die Kunst? In den Kompositionen aus Gurs hört man, dass die Menschen hofften. Vergeblich. Aber macht das ihre Vorstellung des Besseren irrelevant? Enthält diese Hoffnung nicht etwas, das bleiben muss?

Hannah Arendt, selbst in Gurs inhaftiert und gerade noch so entkommen, beschreibt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, wie Menschen in den Vernichtungslagern auf das Kreatürliche reduziert wurden. Nur noch Überleben. Alles, was Menschen erst zu Menschen machte, wurde ihnen ausgetrieben - somit auch die artifizielle, utopische Sehnsucht, die in Künsten sich artikulieren kann. Ernst Toller, sozialistischer Kämpfer in der Münchener Räterepublik unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg, er saß 5 Jahre dafür in Festungshaft, feierten Publikum und Kritiker in der Weimarer Republik als Dramatiker: aufgrund seiner hochartifiziellen, expressiven wie revolutionären Theaterstücke. Er verfasste den Satz: „Wer keine Kraft zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Leben.“ Nach Francos Sieg 1939 im spanischen Bürgerkrieg erhängte er sich im New Yorker Exil.

Die gesamte Disco- und Housemusic ist durchzogen von Eskapismus - raus aus dem Alltag der Diskriminierung, rein in die freie Körperlichkeit. Im Warehouse von Chicago tanzten deklassierte Schwarze zu Zeiten des Massensterbens an AIDS. Hätte denen sozialer Realismus geholfen?

In Frankreich existieren seit Jahrzehnten Repressionen unterworfene Raver-Kulturen. Warum gibt es die wohl? Als ich jüngst Paris besuchte, hörte ich überall Hip Hop als wohl DIE Sprache Deklassierter mit - in Frankreich - hochartifiziellen, aus Argot, also dem Jargon der Straße, geformtem Vokabular gespickt. Er ist vermutlich mittlerweile mit westafrikanischen und arabischen Begriffen durchsetzt - schrecklicherweise oft auch mit Antisemitismus. Ignorieren kann man Rap als ästhetische Form trotzdem nicht. Die, die ihn machen, träumen vermutlich auch eher von schicken Autos, dem neuesten Smartphone und einem exklusiven Penthouse. Diese Wünsche nun einfach als Auswuchs des Kapitalismus zu ignorieren - macht das Sinn? „La Haine (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ und „Tee im Harem des Archimedes (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ kennen ja vermutlich auch Eribon, Louis und de Lagasnerie; tatsächlich sozial realistische Filme. Sie engagieren sich auch gegen rassistische Polizeigewalt. Aber verschwindet diese, wenn man schnörkellos beschreibt, dass es Elend und Unterdrückung gibt? Bisher nicht.

Vielleicht ist Kunst dafür auch einfach nicht die richtige Form. Sondern eben Geschichtsschreibung und Politik. Eno schreibt, Kunst könne Welten entwerfen, anstatt sie einfach nur abzubilden. Popkulturen können das. Kann das kritischer sozialer Realismus auch?

Die mich ärgende Ignoranz queerer Bewegungen und Historien zugunsten der Arbeiter*innenmilieus (in denen es auch viele Queers gibt, siehe die vorherigen Teile dieser Textreihe) und ihrer Ästhetiken mündet nun noch in eine etwas bittere Pointe.

Edouard Louis’ „Anleitung, ein anderer zu werden“ las sich zumindest für mich wie eine Selbstverurteilung, diesen Weg gegangen zu sein - auszubrechen aus den Arbeitermilieus, ja, sich an ihnen rächen zu wollen, so schreibt er und scheint es am Ende des Romans zu bereuen. Sich dabei einer totalen Verwandlung zu unterziehen durch Aneignung von Bildung, auch mittels Zahn- und Kieferoperationen bis hin zum Erlernen kulturellen Kapitals, des Habitus der herrschenden Klasse - wobei auch Beziehungen zu „Sugar Daddies“ eine Rolle spielten.

Aladin Mafalani beschreibt in „Bildung“ anhand migrantischer Milieus, dass häufig dem „sozialen Aufstieg“ die Loyalität zum Herkunftsmilieu im Wege stünde. Dass manche also einen Weg, wie Louis ihn ging, deshalb gar nicht erst anstrebten, wenn die Eltern eher zu den Deklassierten und Rassifizierten gehörten und man dadurch aus familiären Strukturen ausbrechen würde. Bei Louis scheint mir manchmal die Scham durchzuscheinen, dass er dieses wagte - was, wenn sozialer Realismus als Ausweg gewählt wird, in die Reproduktion internalisierter schwulenfeindlicher Stereotpye münden kann. Die „3“ sind allesamt schwul, und da ist auch keiner von uns frei von, von dieser Reproduktion solcher diffamierenden Klischees. Die sind halt antrainiert.

Welche das sind, das beschreibt ausgerechnet Didier Eribon in „Zurück nach Reims“ - in Kommunikation mit Pierre Bourdieu, dem Säulenheiligen der „3“.

„Ist Heterosexualität etwas dermaßen Selbstverständliches, dass man sie gar nicht oder nur indirekt im flüchtigen Gegenbeispiel eines Klassenkameraden anzusprechen braucht, der Geige spielt, dessen Homosexualität »vermutet« wird und der sich einer regelrechten Hetzjagd ausgesetzt sieht, durch die sich die Mitschüler, der alten Opposition von »Ästheten« und »Athleten« folgend, ihrer Heterosexualität versichern? Die Athleten: jene Kameraden aus Bourdieus Rugbymannschaft, die nach und nach aus der Schule verschwanden. Und wie soll man abstreiten, dass diese Wahrnehmungsweisen oder besser diese von jeher in ihn eingeschriebenen Dispositionen in Bourdieus Denken und Schreiben fortgewirkt haben, wenn er an einer früheren Stelle seines Buches kurz davor steht, Foucault als einen »Ästheten« im negativen Sinn zu bezeichnen und ihm damit ein Etikett zu verpassen, das uns (…) wieder zu jener Opposition zwischen den »Sportlern« und den »Homosexuellen«, zwischen der Rugbymannschaft und dem musizierenden Klassenkameraden führt, die auf ein ganz spezielles soziales und sexuelles Unbewusstes verweist? Dass Bourdieu der homophobe Unterton nicht aufgefallen ist, hat mich sehr erstaunt.“  (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Didier Eribon, Rückkehr nach Reims (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Eine ähnliche Oppositonspaarbildung, nur eben „die Arbeiter*innen“ einerseits, die „Ästheten“, somit implizit Schwulen andererseits zieht sich auch durch die mir bekannten Bücher von De Lagasnerie und Edouard Louis. Das ist schon tragisch genug und bezeugt auch eine latente Verachtung für Teile der queeren Communities, die ich auf der Linken oft antreffe - machen nur Party, denken nur an Sex, wackeln nur mit dem Arsch, sonst unpolitisch. Und das, wo Louis doch zwei der wohl wichtigsten international erfolgreichen schwulen Romane, „Das Ende von Eddy“ und „Im Herzen der Gewalt“, verfasste.

Gerade im Kampf gegen Rassismus wirkt zudem die Ignoranz von Popkultur fatal - weil hier vom Gospel über Soul bis Hip Hop sich Artikulationen außerhalb weißer Sprachregeln mit all deren Rassismen formierten konnte und auch orale Überlieferungen eine große Rolle neben der Literatur spielten. Ja, sie wurden in diese Rollen gezwungen. Aber sie haben Utopien und produktiv Imaginäres daraus entwickelt. Das kann in den Worten Bourdieus auch gar nicht reformuliert werden. Das geht sprachlich nicht.

Sozialer Realismus führt da nicht heraus. Es braucht da schon das Gesamtpaket dessen, was Eno beschreibt - „what art does“.

Schamlos, poppig und im besten Falle auch queer.

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