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14:07

Niklas steht am Straßenrand und spürt die Enttäuschung in sich hineintropfen: plopp plopp. Jeder seiner Gedanken gerinnt ihm zu einer kaffeebitteren Brühe, die seine Hals verstopft, das Herz vergiftet und in die Gedärme hineinsickert. Außen, auf der Haut, aber wohnt die Angst und streichelt ihm den Rücken, wie es ein alter, anzüglicher Mann tun würde.

Er wusste, dass es soweit kommen würde, natürlich wusste er das. Es musste so weit kommen, es war völlig klar, warum hatte er nicht vorher gehandelt? Jeden Morgen hatte er sich vorgenommen seit einem halben Jahr, etwas dagegen zu unternehmen, und ihm war auch klar, welche Schritte dafür vonnöten waren, aber seit einem halben Jahr hatte er Gründe gefunden, es nicht zu tun – lachhafte, nichtige, bananene Gründe, aber doch gläzend genug, um ihn zumindest für einige Stunden darüber hinwegzustäuschen, dass dringlicheres anstand; und er sich daran dann erst erinnerte, wenn es zu spät war.

Und jetzt war es ganz zu spät. Jetzt fehlte ihm ein halber Backenzahn.

Er war ja noch nie gern zum Zahnarzt gegangen, zu Zahnärztinnen auch nicht. Aufgehoben gefühlt hatte er sich nur bei dem einen, den er als Kind hatte, ein Mann von der Statur eines Schlachters, der ungern sprach, dafür oft beruhigend brummte. Seine Arme waren dicht behaart, und seine breiten Hände aber führten das Besteck mit einer Virtuosität, als würde er fingertanzen.

Seither aber hatte er niemanden mehr gefunden, der ihm zusagte, obwohl er sicher ein Dutzend Ärzt*innen ausprobiert hatte; besonders unangenehm war ihm die Erinnerung an eine kleine, resolute Ärztin, sehr jung und sehr hübsch, die während der Behandlung ihren Körper derart gegen seinen gedrückt hatte, dass er sich hinterher gewundert hatte, an seinem Arm keine Abdrücke ihrer Brustwarzen entdecken zu können.

Seine letzte Zahnärztin hatte im Internet inseriert, es handle sich um „eine Praxis mit Herz“, spezialisiert auf Angstpatient*innen. Wobei er tatsächlich ja kein Angstpatient war, er war ein Ekelpatient: es kotzte ihn an. Der belehrende Ton, die Herablassung, die missbilligenden Schnuten der Ärzt*innen kotzten ihn an. Er hätte ihnen, wenn sie ihm so kamen, gerne gesagt, dass sie Arschlöcher seien, die sich für etwas besseres hielten, und es ihm auch absolut nicht half, wenn sie ihm derart gleichsam von der Kanzel herab herunterpredigten, was der gute Umgang sei. Dass es ihm nicht half, interessierte sie nicht, das war ja allein sein Problem, sie waren nur da um ein Urteil zu sprechen und in ihn hineinzubohren und herumzufuhrwerken, als wäre er eine Kreatur, ein Ross oder sowas. Zum Kotzen. Das Gegenteil von driver’s seat ist der Zahnarztstuhl.

Bei dieser Zahnärztin, die gar nicht mal bei ihm ums Eck praktizierte, war er genau zwei Mal, obwohl vier Termine anberaumt gewesen waren. Schon bei seinem ersten Termin hatte er sich arg zusammenreißen müssen, um nicht einfach mittendrin zu gehen. Diese sich selbst als derart herzlich verkaufende junge Frau – sie war wohl etwas jünger als er, vermutete er – entpuppte sich als eine Matrone mit der Sensibilität eines Holzblocks, eine Art Bulldozer, die mit ihren Worten über jede Regung, die er hätte äußern wollen, hinwegplanierte; die ihm als erstes sagte, dass das ja alles ganz schlimm aussehe, fast nicht mehr zu retten, und dass er alle seine Zähne verlieren werde, wenn er weiterrauche. Warum er rauchte, das interessierte sie natürlich nicht: alles, was sie interessierte, war der objektive Zustand seiner Zähne, man hätte ihr da auch ein Skelett hinschnallen können, es hätte wohl nichts an ihrer Herangehensweise geändert. Eine dumme Sau, schlicht und ergreifend, dachte Niklas, allerdings eingerahmt von den liebsten und zugewandtesten Helferinnen, denen er je begegnet war; die sich hinterher auch Zeit nahmen, um mit ihm zu sprechen, ihn zu beruhigen und zu bestärken; eine sagte ihm sogar: wir kriegen das zusammen hin, keine Sorge. Und er hatte ihr geglaubt.

An diesem Termin hatte sie ihm den Backenzahn befüllt, ebenjener Zahn, der jetzt zur Hälfte fehlte, mit irgendeiner billigen Pampe offensichtlich, aber es war alles in allem okay gewesen, es hatte auch nicht weh getan. Also ging er eine Woche später wieder hin, um sich den nächsten Zahn behandeln zu lassen, nur um da dann Zeuge eines Gesprächs zwischen der Ärztin und einer der Helferinnen zu werden, in dessen Zuge die Ärztin meinte, sie würde ja gerne noch eine Helferin anstellen, allerdings keine Türkin, da sei ihr die Gefahr zu hoch, dass sie ständig schwanger sei.

Und da hatte er dann entschieden, die nächsten beiden Termine bei dieser rassisitischen Arschkrampe einfach ausfallen zu lassen. Und insofern war der kaputte Zahn auch Ausweis seiner Antirassismus, zumindest versuchte er sich das einzureden, allerdings mit mäßigem Erfolg.

Es war dann so, dass diese Ärztin mit ihrem sogenannten Herzen die Füllung schlecht verlötet hatte, sodass sie nach sechs Monaten herausfiel; da Niklas aber keine Schmerzen spürte, nicht einmal wenn er mit seiner elektrischen Zahnbürste tief hineinfuhr in das Loch, sich nur hin und wieder an der Kante des Zahns die Zunge aufratschte, sah er auch da noch keinen dringenden Handlungsbedarf; bis er dann heute morgen, noch im Handschlaf, zur Tüte M&Ms griff, die gelben, die auf seinem Nachttisch standen (er hatte gestern Abend noch einen Film gesehen) und beherzt mit der falschen Seite, der linken, in eine der Nüsse biss und sofort merkte, wie sich die ganze Architektonik seiner Fresse veränderte; er auch sofort die Überreste der Nuss ausspukte und da dann eben auch ein überraschend kleines gelbes Teil in seinen Fingern fand, dass, wie er dann mit seiner Zunge herausfand, tatsächlich ein halber Zahn zu sein schien. Kurz war er gerührt: so klein sind Zähne! Das ist ja überaus erstaunlich. Aber dann trat ihm sofort der kalte Schweiß auf die Stirn, und über eine Stunde dachte er nichts als Scheiße scheiße scheiße und rauchte, am Küchenfenster stehend und sich selbst verfluchend, eine nach der anderen. Um sich zu beruhigen ging er in den nahegelegenen Park und drehte Runde um Runde, sich fortwährend selbst beschimpfend, als würde einen Rosenkranz nachbeten, bis er ganz erschöpft war vom Gemurmel seiner Tiraden, denen zuzuhören ihm aber gar nicht erst einfiel. Und dann, als er halbwegs wieder beeinander war, wollte er zurück nach Hause, obwohl ihm klar war, dass er sich selbst jetzt gerade nur schwer würde ertragen können; und je näher er seiner Wohnung kam, desto deutlicher wurde ihm auch die Last seiner eigenen Existenz; diese Last der Verantwortung, am Leben zu sein. Es widerte ihn an, dieser Körper widerte ihn an, den er brauchte und den er zu erhalten hatte, und dass es ihm nicht gelingen wollte, sich um sich selbst zu kümmern: was war er nur für ein verdrehter kleiner Wurm, dem die einfachsten Dinge über den Kopf stiegen, und der sogar statt zu einer Zahnärztin zu gehen eines Morgens einmal angefangen hatte, Hegel zu lesen. „Hegel“, ruft er halb „Du dummes Arschloch!“

Erschrocken sieht er auf, das war vielleicht etwas zu laut gewesen, und tatsächlich, der mittelalte Mann gegenüber mit dem Handtuch überm Arm kuckt halb genervt, halb interessiert zu ihm herüber. Dahinter die fast leere Kneipenterrasse, da denkt sich Niklas: das muss ein Zeichen sein. “Ich werde mir jetzt erstmal in aller Ruhe ein Bier reinstellen. Und dann sehen wir weiter.”

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