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Er saß an seinem Schreibtisch. Oder besser an dem was davon übrig war. Sicher, unter den gesammelten Rechnungen und Lohnsteuerkarten und den anderen unbearbeiteten wichtigen Unterlagen, die er schon seit Jahren beim Amt einreichen wollte und die sicher schon längst nicht mehr aktuell waren, den Steinen vom Meer, von welchen einige sogar ein Loch durch das man durchpusten konnte hatten und den unangespitzen Stiften die er schon immer mal hatte anspitzen wollen, all den Anderen wertlosen Sachen und unter den ausschließlich gebrannten CD's, war wohl sowas wie das Holz des Schreibtisches erkennbar. Aber im Prinzip nutzte er diesen Arbeitsplatz nur noch als Ablage für eigentlich unwichtigen Kram. Es wurmte in. Er war sich bewusst, wie stark die Unordnung sich auf seine innere Unausgeglichenheit auswirken musste. Und doch versuchte er dem ganzen Auszuweichen, andere Bereiche seines Lebens zu ändern. Er strebte nach etwas, suchte weit weg, tief in seinem inneren nach etwas Greifbarem. Es war eine Mischung aus Faulheit und mangelnder Führung. Ja, während er so an seinem Tisch saß und alles observierte, merkte er wie ekelhaft er sich im Prinzip fühlte sich nicht selber führen zu können.
Er versuchte sich einzubilden dies läge an dem antiautoritären Erziehungsstil den seine Eltern bei ihm angewendet hatten. Er war nie gezwungen worden etwas zu tun. Nie hatte er eine wirkliche Aufgabe bekommen irgendetwas zu Ende zu bringen. Mitgelaufen oder einfach sich dem anpassend was grade da war, hatte er sich auf Alles eingelassen, was gerade passend war.
Und jetzt hörte er sich alte Musik Aufnahmen vom ihm an. Und jeder falsche Ton den er spielte, wertete er als ein grundsätzlichen Charakterfehler. Das Klavier war leicht verstimmt und die Aufnahme nicht besonders gut. Zwischendurch gab es einige Passagen die er als hörenswert einstufte. Doch sobald er sich im Tempo irrte oder offensichtliche spielerische Schwächen heraushörte, sich gar verspielte, verfluchte er sich innerlich die Aufnahme nicht gleich gelöscht zu haben. Manchmal sagte er sich, er müsse sich ja nur mal anstrengen, nur mal hinsetzen und sich "wirklich konzentrieren". Doch im gleichen Moment befiel ihn das ungute Gefühl, der Zustand der Halbfertigkeit könnte wohlmöglich einfach unabwendbar sein. Er würde nie etwas wirklich Gutes hervorbringen, immer nur Ideen und Ansätze aber sich nie auf etwas bis zum Ende fokussieren. Ebenso wie er seinen Schreibtisch des öfteren eher halbherzig aufzuräumen versuchte und nach wenigen Minuten das Interesse verlor. Für wen hätte er aufräumen sollen? Niemand machte ihm Vorschriften.
Er selbst schien sich nicht wertvoll genug zu sein sein etwas für sich selbst zu tun. Seit Jahren hatte er schon daran gedacht sich verschiedene Regelmäßigkeiten anzugewöhnen. Er hatte es mit Frühsport versucht, mit täglichen Regelmäßigkeiten, die in festigen sollten. Doch das Einzige, was er wirklich regelmäßig tat war, das guten morgen guten Abend wichsen und die Nachrichten im Ersten zu schauen. Außerdem hatte er sich angewöhnt dann und wann seinen Ernährungsstil zu ändern. So aß er über Perioden von drei bis vier Monaten ähnliche Dinge wie Nudeln mit Pesto oder Reis mit Tunfisch und Käse oder auch einfach nur Weißbrot mit Käse und Remoulade. Dabei achtete er stets auf das günstigste Angebot. Er nam sich gleichzeitig jedoch auch immer vor eines Tages sehr gesund zu essen. So wie er sich eigentlich alles immer vor nahm und es "eines Tages" alles so zu machen.
Er war sich aber auch bewusst, dass Veränderungen nicht über Nacht kommen würden und er die Wege die er gehen wollte nach und nach langsam aber zielstrebig verfolgen müsse um etwas zu erreichen. So nam er sich auch oft vor das Ansprechen von Frauen zu üben. Nicht dass er unattraktiv war, im Gegenteil. Er hatte auch schon diverse Schönheiten bei sich übernachten lassen. Aber er hatte immer das Gefühl, nicht genug gefordert zu werden. Im fehlte etwas.
Es war tief in ihm, die Unruhe, die ständige Selbstignoranz. Er wagte es nicht, aus sich herauszukommen. Und versuchte sich doch hervor zu tun und sich gleichzeitig zu verstecken. Er wollte im Mittelpunkt stehen ohne dabei aufzufallen. So stellte er sich selbst ins Rampenlicht und präsentierte sich eben seiner Selbst.
Das ornanieren vorm Spiegel war nicht wirklich ergiebig. Oft stellte er sich vor, etwas Anderes zu sein, er wäre gerne mal in eine Irrenanstalt gegangen um wirklich das zu sein was er war, nämlich nicht er selbst. So war er selbst sein ein Fluch und das Böse schlummerte in ihm irgendwo neben all seiner Liebesfähigkeit die er deutlich spürte. Manchmal liebte er die Welt und ihre Schönheit. Wenn er einen guten Tag gehabt hatte und ihm eine besonders schöne Improvisation auf seinem Klavier gelungen war, nahm er die Aufnahme mit an den Fluss oder in den Park und genoss die Schönheit der Natur und manchmal weinte er dann. Dann weinte er weil er an seine unausgeglichenheit und die Hässlichkeit und das Selbstmitleid dachte und daran, dass er seine Energie eigentlich am liebsten für jemand anderen investieren wollte.
Er hatte das Gefühl, da er mit sich selbst nicht zurechtkam seine gesamte Phantasie und sein Gefühl für das Schöne nur für jemand anderen aufbringen zu können. Denn er selbst fühlte sich nicht wertvoll genug, nicht souverän, nicht brauchbar. Aber für jemand anderen, so hätte er das Gefühl, wäre er bereit sein Leben zu besinnen, ihm einen Sinn zu geben.
In gewisser Weise würde er sich durch die Aufgabe, jemanden anderen ihn liebend zu behalten, verpflichtet fühlen, etwas aus seinem Leben zu machen um es Wert zu bleiben geliebt zu werden. Und doch; wie sollte er geliebt werden, wenn er sich selsbt nicht liebte. Er wusste diese Schwäche bis zu einem gewissen Punkt zu überspielen.
Und doch erreichte er nie die nötige Selbstsicherheit aus der einfachen Existenz seiner Selbst heraus geliebt zu werden. Es bedarf mehr. Man musste eine mehr oder weniger aktive ignoranz gegenüber der Welt besitzen, um als attraktiv zu gelten, dass hatte er gelernt. Es war nicht einfach für Andere zu verstehen, dass sie als Lebenssinn fungieren konnten ohne dabei vergöttert zu werden. Trotz seiner negativen Lebenseinstellung hatte er doch manchmal Momente des Glücks. So hatte er die schönsten Träume und vermied es, Kaffee zu trinken und an Sonntagen lange zu schlafen, da er das Gefühl der Müdigkeit genoss, denn es verhalf ihm zu einer weniger aktiven Wahrnehmung der Welt. So wandelte er an manchen Tagen, wenn er weniger als vier Stunden Schlaf in der Nacht hatte durch die Stadt und sah sich die Menschen an. Oder besser; er richtete seine Augen auf das Geschehen, ohne zu speichern. Dann taumelte er auf seinem Fahrrad nach Hause um sich schlafen zu legen. Auch wenn es ihm immer schwer viel einzuschlafen, so war doch seine Träume regelmässig geprägt von einer Flut von Eindrücken die er zu verarbeiten hatte. Durch die vom Schlafentzug ausgelöste, leichte Paranoia versank er in die unglaublichsten Welten voll von zusamenhanglosen Kangurus mit Kapernbespickten Haselnüssen oder Teppichfusseleingerollten Kohlmeisenkackenden Kusewitzen. Und dabei hatte er ein merkwürdiges Gefühl von einer echteren, lebenswerteren Welt der Träume. So wirkte auf ihn seine Phantasien realer als die wache Realität. Mit der Zeit hatte er sich angwöhnt die Tage nur halb wahrzunehemen und dafür die Nächte umso intensiver zu feiern.
Er erlebte die wildesten Sex Orgien und schönsten Flüge über Felder und Bäume indem er einfach drauf los rannte und sich irgendwann schwungvoll abstieß und davon gleitete. Sobald er mit einem Ständer erwachte, machte er sich daran die geträumten Erlebnisse an sich abzuarbeiten um kurz darauf wieder einzuschlafen. So wandelte er sich langsam von einem Wach zum Traummenschen. Sein Schreibtisch wurde Nachts zu einer Wüstenlandschaft wo her von CD zu CD sprang und durch die Zahlen der Lohnsteuerkarten hindurchschwamm um kurz darauf mit den Milben die aus dem Teppichstaub hervorkrochen zu unterhalten oder einen Ringkampf zu führen. Wenn er wach war und es geschafft hatte, mal wieder etwas zum stechen zu finden so versankt er beim Akt regelmäßig in die Erinnerungen seiner Träume und celibrierte so den Koitus im halbwachen Zustand. Er wirkte dadurch sehr einfühlsam, was von den Frauen oft gemocht, aber als gefühlvoll missverstanden wurde. Doch darum kümmerte er sich nicht. Er war kein Arschloch, kein wahrer Egoist.
Er passte nur einfach nicht in die simple Welt die ihn umgab.
Es war eine Art ungewollte Arroganz die er zu unterdrücken versuchte, die ihn aber in jeder Lebenslage beeinflusste. Er entwickelte sich zu einem Menschenscheuen Wesen, dass sich jedoch intensiv mit Menschen umgab. Und doch wuchs in ihm das Wesen was sich abwendete von all dem. Er versuchte sich quasi dem notwendigen Übel der gesellschaftlichen Anpassung zu beugen und parallel dazu sein verwirrtes Selbst auszuweiten und entstehen zu lassen. Manchmal schien es ihm wie eine versteckte Schizophrenie. Er dachte viel über das Leben und andere Menschen nach, über deren Zusammenspiel und alles was ihn umgab. Und je länger er in dieser surrealen Welt, die er sich geschaffen hatte verweilte, desto stärker befiehl ihn das Gefühl, nicht alleine zu sein. Manchmal kam es ihm so vor, dass jeder Mensch ein ähnliche Seite wie er an sich hatte. Konnte man wirklich wissen, was jeder, selbst beste Freunde oder der Sex- bzw. Lebenspartner 24/7 taten, ob nicht jeder irgendeine verborgende Seite wachsen lies, an dieser Arbeitete, sich Tier-Pornos ansah oder Nachts Flussraten schlachtete um deren Gedärme zu verspeisen oder die ein oder andere Tankstelle ausraubte, nur für den Adrenalinschub? Und je länger er darüber nachdachte, desto unlebenswerter erschien ihm die reale Welt, wenn sie überhaupt "real" war. Denn wer hatte das recht zwischen der Traum und der "realen Welt" zu entscheiden welcher "echter" war?
War nicht letzendlich das viel wichtiger, was die Gedanken in einem hervorbrachte?
Er wusste von so viel Leid und perversem auf dieser Welt. Doch all dieses Wissen hatte er im wachen Zustand aufgenommen, hatte die Träume oder Gedanken Anderer über das Fernsehen, über Bücher oder Erzählungen von Freunden oder Internet aufgenommen. Und war da nicht sein eigene Traumwelt, auch wenn sie beeinflusst war von dem "realen", viel wichtiger? War nicht ER der jenige der all das in sich hineingelassen hatte? Er verspürte das Bedürfniss nach Wahrheit. Und wurde sich mit der Zeit bewusst, wie jeder nur seine eigene Wahrheit erschaffen konnte. Es war viel zu viel auf der Welt, was man nicht erfassen konnte, so viele Geister, so viel Müll so viel Leid so viel unbegreifliche Ungerechtigkeit, so viel von dem er wusste, dass er es nie auch nur ansatzweise erfassen konnte. Und war es da nicht seine Aufgabe, ja sein inneres Empfinden, seine Pflicht sich selbst gegenüber wenigstens sich selbst zu verstehen , sich nicht über das Wesen anderer Gedanken zu machen, nicht zu versuchen etwas anderes zu verstehen als sich selbst?
Er hatte oft das Gefühl sich aufzulösen, was unter Anderem an dem Alkohol lag den er seinem Körper so oft zuführte. Aber was ihm am nächsten lag, war, dass er sich in seinem dahinschwindenden Körper wohl fühlen wollte. Es lag nicht an seinen mangelnden Fähigkeit. Sicher, er war in vieler Hinsicht talentiert, hatte Interessen. Aber es fügte sich nicht zu etwas Ganzem zusammen, ebenso wie seine Träume und seine Gedanken die umherzuschwirren schienen wie Mücken im Frühling, wenn die Luft noch zu kalt war um einheitliche Linien zu fliegen. Jetzt saß er an seinem Schreibtisch und begann das Benzin aus dem Kanister langsam, Tropfen für Tropfen, gleichmäßig zu verteilen. Er hatte das Bedürfnis zu schreien, aber es fehlte der Anlass. Also schrie er und fühlte sich im selben Moment hässlich und dumm. Warum tat er das? Er würde es später sicher herausfinden. Das Streichholz hatte sich schon fast in sein Fingerfleisch gebrannt als er es endlich fallen lies. Er erschrak doch an der emporzischenden Stichflamme, obwohl er etwas ähnliches erwartete hatte. Das Feuer brannte nicht gut und irgendwie erzeugte es auch kein Gefühl der Befreiung oder der Reinigung. Es war eigentlich nur ein weiterer Beweis für seine zerstörterende Wut auf die mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit der "Realität".
Also nahm er die Decke von seinem Sofa und warf sie auf die Flammen. Das Zimmer sollte noch mehrere Monate lang nach Räucherwurst riechen.
Seine Träume waren geprägt von Blut und Eiter die aus undefinierbaren Fleischköpern quollen, die wie eine Genmanipulierte Züchtung aus einem Kiwi und aus einer Schweinsnase aussahen. Vom Herzschlag pulsierende, federig behaarte Zellenansamlungen, rosa, rissig und tropfend mit zwei schnaubenden Nasenlöchern, rotzrinnend. Angewidert wachte er auf und erbrach sich dann und wann auf sein Lacken. Die neue Matratze war nicht billig gewesen, aber er hatte den Gestank nicht länger ertragen können und einige seiner Übernächtigenden hatten sich negativ über den Geruch geäussert, was ihn zum Handeln gezwungen hatte. Er hatte sich angewöhnt, Abends möglichst wenig zu essen und wenn er es doch nicht hatte verhindern können, etwas zu sich zu nehemn, wenigstens vor dem Zähneputzen den Finger im Hals ins Klo zu kotzen.
Die Träume verschwanden so langsam wie der Geruch einer Räucherkammer der durch den verbrannten Schreibtisch verursacht worden war. Jetzt flogträumte er wieder über Kornfelder und Mohnblumen. Er wusste, dass der Schrecken irgendwann wieder über ihn herein brechen würde und manchmal hatte er Angst davor. Doch dann gab er sich wieder ganz seinen Phantasien hin und schwamm durch Brennesselfelder, singend und hier und da einen fliegenden Fisch mit den Zähnen auffangend der aus den brodelnden Gewässern der Sümpfe sprang.
Die Intensität mit der der Müll aus dem Fernsehen auf auf ihn niederprasselte erschreckte ihn manchmal. So begann er den Müll zu trennen; Wahres und Sensation, Stumpfsinn und Wissen, brauchbar und nutzlos - auch wenn es ihm nicht immer gelang, so konnte er doch weiterleben. Und, was viel wichtiger war, er nahm nichts mehr wirklich war, alles war eben die "reale" Welt. Nichts von dem was er dort wahrnahm, hatte etwas mit der Dimension der Träume zu tun. Und das war gut. Niemand konnte ihm folgen, niemand ihn verstehen, aber er sprach zu sich selbst. Es war eine Form des Paradies. Ein trauriges und einsames, unzugängliches, aber ein lebenserhaltendes Pi-radies.
& er schwamm 3,1415 - versank in der ALKOHOLYPSE NOW!
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