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Warum ich trotz allem an das Gute im Menschen glaube

Viele von uns bedrückt die Situation im Nahen Osten. Mich auch. Deshalb habe ich einen Text von mir aus dem Archiv geklaubt, der wie die Faust aufs Auge passt. Oder wie das Olivenöl in den Humus. 
Dieser Essay wurde ursprünglich in meinem Buch 
“Hoffnung leuchtet”  (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)veröffentlicht. 

Ich muss tief in meiner Erinnerungskiste wühlen, denn das Folgende liegt einige Jahrzehnte zurück. 

Vieles ist in der Versenkung dieser Kiste verloren, aber manches Bild sticht immer noch so klar und deutlich hervor, als wäre es erst gestern passiert. Das Bild, dessen dazugehörige Geschichte ich suche, ist an einem Septemberabend im israelischen Krayot entstanden. Ein älterer Mann steht mit mir in seinem Blumengarten, knipst eine seiner selbstgezüchteten Rosen ab und überreicht sie mir. Ich stehe unter dem samtschwarzen Mittelmeerhimmel und habe einen mächtigen Kloß im Hals. 

Wie war ich dort gelandet? 

Es nahm alles seinen Anfang damit, dass ich mit zarten 19 Jahren meinen Koffer packte und statt eine Ausbildung zu beginnen dem Ruf der jungen heißen Liebe nach Israel folgte. Meinen Koffer packte ich in dem kargen, zweckmäßig eingerichteten Zimmer eines Kibbuzes wieder aus, welches in den nächsten Monaten mein Zuhause werden würde. Viel war es nicht, was ich mitgebracht hatte. Während ich noch die Kleidung einräumte, begrüßte mich meine Zimmernachbarin. Sie war Engländerin und kam aus East London. Soviel verstand ich gerade noch. Der Rest rauschte an mir vorbei. Sie hätte genauso gut Japanisch reden können. War das überhaupt Englisch, das sie sprach? Nachdem ich mehrmals mit schüchternem „Pardon me?“ nachgehakt hatte, wurde mir die ganze Sache dermaßen peinlich, dass ich zu Lächeln und Nicken überging. 

Lächeln und Nicken ist meine erprobte Methode, wenn ich nach mehrmaligem Nachfragen die Antwort immer noch nicht versteht und kompliziert-peinlichen Fallstricken aus dem Weg gehen möchte. Es ist schon fast eine Kunst, die „Mhms“ und „Jas“, immer schön an den hoffentlich richtigen Stellen zu platzieren. Im Stillen flehte ich Gott an, er solle diesem Gespräch ein schnelles Ende setzen. Aber keine Chance. „Fancy a cup of tea?“ Ich, planlos lächlend: „Mhm“ 

Meine Kommunikationsfähigkeiten waren aber Gott sei Dank nur auf Muttersprachler beschränkt. Draußen, mit den Israelis, plauderte ich buntes Pidgeon-English. Und sie antworteten in ihrem eigenen bunten Pidgeon-Englisch. Wir verstanden uns grandios. Die Wochenenden verbrachte ich bei der Familie meines Freundes. Heute ist mir schleierhaft, wie das alles funktionierte. Zu fünft bewohnten sie eine winzige Dreizimmerwohnung in einem Hochhaus. Sie warfen mich einfach mit in ihr Rudel und da war ich. Mich pudelwohl fühlend. Der Kühlschrank war immer voll, es war jederzeit Gesellschaft zur Stelle. Oft kamen noch die polnischen Nachbarn und Freunde dazu. Eines Tages nahm mich mein Gastvater Itzik zur Seite und meinte, einer seiner Arbeitskollegen würde mich gerne kennenlernen. Irritiert blickte ich ihn an. Genügte es ihm nicht, dass ich seinen Sohn datete? Wollte er mich nun für ein paar Falafel auch noch an einen Kollegen verschachern? Gewannen seine orientalischen Wurzeln die Oberhand? 

Nein, bei dem Kollegen handelte sich um einen älteren Mann und seine Frau, die mich einladen wollten. Ohne mich zu kennen. Einfach nur, weil Itzik wohl jeden Tag auf Arbeit von der deutschen Freundin seines Sohnes schwärmte, die er daheim durchfüttern musste. Meine Herkunft war der Grund für die Einladung. Deutsch. Das jecke Mädel wollten sie kennenlernen.

An einem warmen Spätsommernachmittag packte mich Itzik in seinen Kleinstwagen, fuhr drei Kilometer und parkte in einer ruhigen Seitenstraße. Der Ventilator auf dem Armaturenbrett drehte seine letzten stotternden Runden. Es war Sabbat und wir fanden uns vor einem kleinen, weiß getünchten Häuschen wieder, dessen Gepflegtheit sich von seiner ärmlichen Umgebung abhob. In der Tür stand Mikhael, ein gesunder sonnengebräunter Senior, der aussah als würde er jeden seiner Tage auf einer Yacht verbringen, nicht in einer Fabrik. 

„Komm herein, komm herein!“ begrüßte er mich lächelnd und mit einwandfreiem Deutsch. Im Wohnzimmer wartete seine Frau, die etwas zurückhaltender war. Sie konnte nur wenige Brocken Deutsch und Englisch. Dafür bewirtete sie mich umso herzlicher. Mit Minztee, Wassermelone und Pistazien. Wir betrieben höfliche Konservation. Woher kommst du, was machst du, wie alt bist du? Heute blicke ich zurück auf diesen Abend und denke: Meine Güte, ich war 19. Ein Baby. So wenig Ahnung von der Welt. 

Ich, die deutsche Ahnungslose mit Hang zu unverblümter Direktheit, wollte die Konversation vorantreiben: „Woher kommt ihr ursprünglich?“

„Aus Polen.“ 

„Und wann seid ihr nach Erez Israel gekommen?“

„1946.“

Oi Weh.

Der Elefant stand im Zimmer und konnte nun nicht mehr höflich umschifft werden. Wie spricht man den Holocaust an einem  Bilderbuchabend an, vor einem Tisch voller Köstlichkeiten? 

Mikhael kam mir zuvor und begann von sich aus zu erzählen. Er war einer der wenigen seiner Generation, der sein Trauma nicht wegdrückte, sondern deutlich auf den Elefant im Zimmer zeigte. 

Deutschland überfiel sein Land und als junger jüdischer Mann geriet er in größte Gefahr. Mikhael landete im Ghetto und begann dort im Untergrund zu kämpfen. Als das Ghetto aufgelöst werden sollte – also im Klartext: Als alle Bewohner in die Vernichtungslager abtransportiert werden sollten wie Vieh zum Schlachthof – gelang ihm die Flucht. In den Wäldern überlebte er bei den Partisanen bis zum Kriegsende. Er kämpfte von dort aus weiter gegen die Deutschen, während er gleichzeitig um seine Angehörigen bangte. Erst nach Kriegsende erfuhr er, dass sie alle ermordet worden waren: Vater, Mutter, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen. Obwohl er erbittert gekämpft hatte, hatte er verloren. Mikhael stand vor den Trümmern seines Landes und seines Lebens. 

Auch seine Frau, die er erst nach Kriegsende in München kennenlernte, war tief traumatisiert. Sie hatte mehrere Lager überlebt, ebenfalls alle Angehörige verloren und war nun krank und bis auf die Knochen abgemagert. Sie war Strandgut dieses elenden Vernichtungskrieges. Michael war einer Anfrage der Jewish Agency gefolgt nach München gefolgt, den verbleibenden Juden in Europa bei der Ausreise nach Erez Israel zu helfen. Er schleuste Hunderte von Überlebenden in die neue orientalische Heimat. 

An dieser Stelle musste ich Mikhael unterbrechen: „Aber du bist mitten ins Herzland der Täter gereist. Warum München? Jeden Tag die Sprache hören, von potenziellen Tätern umgeben sein, wie hast du das ausgehalten?“

Mikhael zuckte mit den Schultern, hob die Hände auf eine Art, wie sie nur jemand hebt, der schon lange im Orient lebt und meinte: „Nun. Es waren ja nicht alle Deutschen so. Es gab auch viele Gute unter ihnen. Wenn ich schon als Partisan nicht viel erreichen konnte, so wollte ich nun meinen Brüdern und Schwestern helfen.“ 

Ich betrachtete diesen alten Mann, der vor Gesundheit und Lebensfreude nur so strotzte. Ich versuchte ihn mir als Partisanen im Ghetto vorzustellen. Als jungen Mann, der mitten hineinläuft in den Sturm. Der ein Held war. Im Krieg und danach. Neben ihm saß mein Gastvater Itzik, der sich gerade angeregt mit Mikhaels Frau unterhielt. Er hatte im Sechs-Tage-Krieg mit seiner Kompanie den See Genezareth gegen syrische Truppen verteidigt. Gekämpft bis aufs Blut. Selten redete er darüber, aber wenn, dann in grausamen Details. Ich betrachtete die stille, zerbrechliche Frau Mikhaels, die Dinge und Bilder und Gerüche und Geräusche und Verluste in sich trug, die doch kein Mensch aushalten kann. 

Mikhael beendete seine Erzählungen mit der Ankunft in Israel. Dann griff er in die Pistazienschüssel und pulte ein paar grüne, salzige Kerne aus ihrer Schale. In meiner Brust war es ganz eng geworden. Ich erlebte ein Paradox, das mir bereits so oft in Israel begegnet war. Auf der einen Seite das Opfer, auf der anderen Seite ich – Angehörige des Tätervolkes. Und zwischen uns Lachen, Erzählen, Zuneigung, die Einladung zu Essen und Tee. Ich musste jedes Mal den Reflex unterdrücken, nicht aufspringen und tausend Mal tränenreich um Verzeihung bitten zu wollen. Das hätte sowieso niemand von mir verlangt. Alles, was je von mir in Israel verlangt wurde waren Zuhören und den dritten Nachschlag aufzuessen. 

Ich konnte mich nicht zurückhalten: „Mikhael, hasst du die Deutschen nicht dafür, was sie euch angetan haben?“ Lächelnd gab er zur Antwort: „Nein. Ich hasse sie nicht. Ich habe in meiner Münchner Zeit und auch danach immer wieder so viel hilfsbereite, judenfreundliche Deutsche kennengelernt. Ich pauschalisiere nicht.“ 

Das ist Größe. Nein, wir Christen haben nicht das Monopol auf Vergebungsbereitschaft und Nächstenliebe gepachtet. Auch wenn wir gerne glauben, dass die Welt uns daran erkenne würde. Diese Attribute habe ich in vielen Menschen erlebt, die Jesus überhaupt nicht kennen. Die eine Liebe und Würde ausstrahlen, dass ich vor Scham erröte. Gott wirkt durch Menschen und Kulturen und Zeiten hindurch, die nur zum Bruchteil evangelikal besetzt sind.  Seine Geschichte wird nicht nur von uns „hier drinnen“, sondern auch von denen „da draußen“ geschrieben. 

Ich hatte nun einen mächtigen Kloß im Hals, der sich auch mit dem Minztee nicht herunterschlucken ließ. Mikhael forderte mich auf, ihm in seinen Garten zu folgen. Er öffnete die Terrassentür und ich fand mich in einem Meer aus Rosen wieder. Der sandige Mittelmeerboden und das heiße Klima machen es Gärtnern nicht leicht. Es bedarf einer großen Portion Begabung, Zeit und Hingabe, um diesem Boden solch schöne Geschöpfe zu entlocken. Mikhael führte mich herum, zeigte mir mit Stolz jede einzelne Rosensorte. Dann nahm er seine Gartenschere zur Hand, knipste eine besonders prächtige Blüte ab, entfernte sorgfältig die Dornen und drückte mir die Rose in die Hand. 

Diese schlichte Geste ließ mich zerfließen. Jung war ich und doch erfahren genug um zu wissen, mit welcher Symbolik diese Handlung verbunden war. Es war Versöhnung mit der Vergangenheit. Es war ein Wegwischen, was zwischen unseren Völkern stand. „Ich habe mich so gefreut, dass du uns heute abend besuchen kamst. Ich habe immer gerne Deutsche hier. Nicht um ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, sondern weil ich froh bin, mich mal wieder auf Deutsch unterhalten zu können und vor allem die neue Generation kennenzulernen. Ihr macht mir soviel Hoffnung.“ 

Mit der Rose in der Hand und vollem Herzen stieg ich unter dem samtschwarzen Himmel wieder in Itziks kleines Auto. Auf dem Gehsteig verabschiedete sich der eine Kriegsveteran vom anderen Kriegsveteran. Sie klopften sich auf die Schultern. Mikhael und seine Frau winkten uns nach. 

Es gibt Momente im Leben, die einen zur Hoffnung bekehren. Das war so einer gewesen: Mikhael hatte demonstriert, dass unsere Menschheit, so sehr sie oft am Abgrund tanzt, soviel Potenzial zu Gutem in sich trägt. Dass sie nicht nur Opfer und Täter, sondern auch Überwinder und Gestalter sind. Wenn ein Mensch, der so viel Leid erlebt hat und trotzdem in der Lage ist, sich aus der Asche zu erheben und Vergebung zu praktizieren, dann ist die Menschheit vielleicht doch nicht so ein hoffnungsloser Fall. 

Ein paar Wochen nach diesem Abend reichten sich Arafat und Rabin in Camp David die Hände. Israel und die einstige Terrororganisation PLO schlossen Frieden. In unserem Kibbuz feierten wir an diesem denkwürdigen Abend. Es überstieg unsere  Vorstellungskraft, dass zwei solch verfeindete Nationen ihre Animositäten beiseite lassen konnten und zu Eingeständnissen bereit waren. Die PLO hatte also nun nicht mehr vor, die „Juden ins Meer zu schmeißen“. Und Israel lockerte seine Vorstellung über die Aufteilung der besetzten Gebiete. 

Ich war sicher, nun war das Zeitalter des „Und-sie-lebten-gemeinsam-glücklich-bis-an-ihr-Lebensende“ angebrochen. Nur vier Jahre zuvor war ja die Mauer gefallen. Und zwischendrin wurde die Apartheid in Südafrika abgeschafft. Gute Zeiten. 

Der Mensch ist in der Lage, Kräfte zu entfesseln, die radikal gut sind. Kräfte, die Versöhnung schaffen, wo Versöhnung undenkbar scheint. Die Unrechtssysteme stürzen, welche für  die Ewigkeit zementiert schienen. Die Rosen züchten und diese einer Angehörigen des ehemaligen Mördervolkes schenken. 

Es fängt im Kleinen an. 

Hoffnung bedeutet, sich mit dem Zustand der Welt nicht zufrieden zu geben. 

Sie schlummert in dem Wissen, dass unser Schöpfer sich diese Welt nicht als einen Ort des Jammertals gedacht hatte. Dass diese Welt auch eines Tages wieder ihren Urzustand erreichen wird. Der Zustand der Tage von Garten Eden. 

Wir beten „Dein Reich komme“. 

Hoffnung bedeutet, dass wir heute schon an seinem Friedensreich mitarbeiten. 

Ein Zyniker der Gegenwart würde nur müde den Kopf schütteln und nun eine bissige Bemerkung loslassen. Ich selbst bin manchmal dieser Zyniker. 

Und doch, gerade in diesen Zeiten, in denen das Weltenpendel von der hoffnungsvollen auf die bedrohliche Seite zurückschwenkt, ist jeder von uns berufen als Mitgestalter. Wir brauchen weniger Menschen, die auf die Haare in der Suppe zeigen, sondern die Suppe selbst kochen. Unsere Welt liegt seit dem Sündenfall in Trümmern. Und doch ist der Mensch so ungemein resilient, dass er sie immer wieder aufbaut. Sowie Mikhael. Er war erst Opfer. Dann Gestalter. Der Mensch reißt trennende Mauern nieder, fährt Schutt zur Seite, errichtet Mahnmäler und Versammlungsorte und Museen, er macht die Wüste fruchtbar und pflanzt Rosen, reicht dem Feind die Hand, lässt Gefangene frei. 

Die Zeiten mögen bedrohlich sein, aber sie haben nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist das Friedensreich, das anbrechen wird. Wir beten Gottes Reich herbei. Und zugleich sind wir bereits die Antwort. Wenn wir mit einer radikalen Liebe lieben und vergeben. Unser Recht aufs Rechthaben aufgeben. Unser Recht auf vermeintliche Sicherheiten aufgeben. Und unseren Ort, an dem wir gerade sind zu einem Ort machen, an dem Versöhnung, Gestaltung und Hingabe an Gott gelebt wird. 

Am 11. und 17. November finden zwei Veranstaltungen mit mir statt. Nähere Infos findest du hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns dort sehen!

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