Ungebremst durchs Bildungsraster
In meinem Job als Sozialpädagoge in der Familienhilfe habe ich nicht nur unzählige verschiedene Familien und Kinder kennengelernt, sondern auch massig verschiedene Schulformen. Neben den Klassikern Gymnasium, Real- und Hauptschule findet man auch Förderzentren jeglicher Art, Schulen nach Montessori-Konzept oder auch die kritisch beäugten Waldorfschulen. Auf den ersten Blick sieht das nach einer ziemlichen Fülle an Angeboten aus. Die Idee, dass für jeden etwas dabei sein muss, liegt nahe.
Ich habe relativ schnell den Eindruck gewonnen, dass das nicht der Fall ist. So unterschiedlich sind diese Schulen nämlich gar nicht. All diese Schulen unterliegen derselben Idee: einem zentralen Bildungsstandard. Wenn Dich irgendwer mit einer Lernschwäche abstempelt, dann wirst Du auf eine Schule verfrachtet, die niedriger ansetzt. Du wirst im wahrsten Sinne des Wortes schulisch herabgestuft. Du wirst dazu verurteilt, mit geringeren Chancen als deine Mitbürger in Dein späteres Erwachsenenleben zu starten, weil Dein Abschluss weniger wert ist. Du wirst immer aus derselben Perspektive beurteilt und wenn Du dem Leistungsdruck nicht standhalten kannst, dann hast Du eben Pech gehabt. Dass Du vielleicht ganz andere Talente und Ressourcen hast, ist völlig irrelevant. Auf der deutschen Bildungscheckliste ist neben Mathe, Deutsch und Fremdsprache nämlich keinen Platz mehr. Wer hat das Recht, zu beurteilen, dass Algebra mehr wert ist als ein handwerkliches Talent? Wieso ist der Blick immer Richtung Abitur gerichtet und alles darunter ist eine Enttäuschung?
Nach gleichen Chancen für alle hört sich das für mich nicht an.
Was ist denn, wenn Du für Mathe, Biologie und Co. überhaupt nicht greifbar bist? Was ist, wenn Dich andere Dinge blockieren als eine Lernschwäche? Dann fällst Du ungebremst durchs Bildungsraster. Dann ist Dir das Schicksal vergönnt, auf jeder Schule falsch zu sein. Von einer zur nächsten geschoben zu werden, um wieder festzustellen, dass auch dort niemand etwas mit Dir anfangen kann. Bei der bloßen Vorstellung an diese Ungerechtigkeit staut sich in mir die Wut auf.
Ein Schulkonzept, bei dem jeder Schüler individuell nach seinen Stärken aufgegriffen wird, existiert nicht. Niemand gibt sich die Blöße, sich intensiv mit den Kindern zu beschäftigen. Mit den Kindern, die in diesem Bildungschaos verloren gehen. Und erst recht nicht mit den Kindern, die keinerlei Unterstützung erfahren. Die Kinder, die von ihrer finanziellen Situation eingeschränkt und ihrem sozialen Umfeld gebeutelt werden.
Für die meisten hört sich das alles dramatisch und fremd an. Wenn das so ist, dann habt Ihr Glück gehabt und musstet euch nie mit diesen Problemen auseinandersetzen. Wenn man selbst die Mittelschicht aber nur von unten sieht, dann ist dieses Chaos nicht fremd.
Dann ist es real.
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