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Hallo,

heute erzähle ich von schlechter Schauspielerei. Man soll das, was schlechte Schauspielerei über die Gesellschaft verrät, in der sie entsteht, nicht unterschätzen. Denn schlechte Schauspielerei hat einen gesellschaftlichen Auftrag.

Und dann erzähle ich noch die Geschichte vom Altbundeskanzler und dem Salznapf meiner Mutter. Alles hat – wie immer –  miteinander zu tun.

1. Polizist

Was Schauspieler*innen wollen, ist eine Art Erlösung durch Bewunderung, eine Himmelfahrt durch Applaus. Ich weiß das, weil ich selbst mal Schauspieler werden wollte und dann auch ganz kurz einer war. Die Schrecken, die die Schauspielkunst über die Welt bringt, möchte ich kurz am Beispiel von Kenneth Branagh betrachten, dem vielleicht berühmtesten und erfolgreichsten Schmierenschauspieler der Welt. Hier ein Screenshot aus „Wallander“ auf Netflix:

In der Serie nach den Krimis von Henning Mankell, spielte Kenneth Branagh mit dem persönlichen Segen des Autors zwischen 2008 und 2016 die Hauptfigur, den alternden schwedischen Provinzkriminalisten W., der auch Kriminalfälle löst, dabei aber ständig auf eine so übergriffige Weise nervennervös an sich selbst leidet, dass alles sich ausschließlich um ihn dreht. Beziehungsweise letztlich um den Starschauspieler, der ihn spielt und dem in seinem Ruhm keine Regie mehr Grenzen zu setzen wagt.

Es gibt die ganzen langen „Wallander“-Stunden lang nichts anderes als Branagh. Branagh, den Wallander gebend, alle Blicke auf sich ziehend, immer. Wenn eine junge Migrantin sich vor den Augen des Polizisten selbst verbrennt, dann geht es nicht um das Schicksal dieser Migrantin, sondern um den Schock, den dies im Polizisten auslöst und der so groß ist, dass sein gesamtes Team ständig um ihn zittern muss: Papa geht es nicht gut! Papa sein ist schwer! Wir müssen Papa helfen, sonst wird er uns böse. So ähnlich dürfte Branaghs Team beim Drehen um seinen Star gezittert haben, an dem der Erfolg ja hängt. Im Patriarchat, von dem „Wallander“ unbewusst handelt, basiert alles auf Abhängigkeiten.

Um seine Familie kann Branaghs Wallander sich natürlich zu allerletzt kümmern, worunter er Folge für Folge schwitzend und bildschirmfüllend leidet. Der arme Mann! Die ganze Serie könnte „Wallanders Leiden“ heißen. Aber leider hilft das väterliche Selbstmitleid seiner Familie irgendwie gar nicht, und im Grunde hat sie nur den Augenblick verpasst, dieser Großnarzisse, mit der das Leben sie geschlagen hat, zu sagen, was sie ihr schon lange hätte sagen müssen: Geh sterben!

Diese Geschichte vom toxischen Schmierenschauspieler fiel mir ein, als mir nach Putins Überfall auf die Ukraine ein tiefernster Debattenbeitrag nach dem anderen begegnete, in dem die Frage erörtert wurde, wie man dem armen Aggressor aus seiner misslichen Lage wieder heraushelfen könne. Bevor er auch auf uns noch böse wird - denn ihr wisst doch, wie Papa ist, wenn er betrunken nach Hause kommt! Unberechenbar. Papa sein ist schwer. Wir müssen ihm helfen.

Anstatt ihm klar und deutlich zu sagen, was wir ihm schon lange hätten sagen sollen: Geh sterben!

2. Salznapf

Diese Geschichte würde ich lieber nicht erzählen. Sie beginnt mit einem Besuch bei meiner Mutter, und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo sie – und ob sie – enden wird.

Meine Mutter feiert in zwei Monaten ihren 96. Geburtstag, und bevor sie mir gleich den Salznapf schenkt, plaudere ich über den Zaun noch kurz mit ihrem sehr viel jüngeren Nachbarn, der erstaunlicherweise nicht nur zu Beginn der Corona-Pandemie schon wusste, wo das enden würde, sondern auch Freunden in der Landespolitik genau gesagt habe, was nun zu tun sei. Nur dass man leider nicht auf ihn gehört habe. Und da verwandelt sich vor meinen Augen plötzlich alles Leid der Pandemie in sein eigenes Leid – in das Leid, Bescheid zu wissen, aber nicht gehört zu werden. Nie gehört zu werden!

Ich wünsche ihm, dass er in der Verfilmung seines Lebens von Kenneth Branagh gespielt werden wird, und gehe hinein, um in der Küche auf dem Fensterbrett zwischen den Orchideen den Salznapf zu entdecken.

Der bei uns bestimmt bis in die Siebzigerjahre hinein auf genau dem Esstisch stand, an dem ich auch jetzt sitze. Man musste zum Nachsalzen mit spitzen Fingern hineingreifen, und das Salz war immer ein bisschen feucht. Dann wurden die Salzstreuer eingeführt.

Der Napf ist aus Bleikristall. „Gefällt er Dir?“, fragt meine Mutter. „Dann nimm ihn mit. Der ist von meiner Mutter.“

Ich sehe ihn mir genauer an. Er ist hübsch verziert. „Oh“, sage ich, „das ist ja ein Davidstern.“

„Das kann nicht sein“, sagt meine Mutter. „Oma hat Juden gehasst.“

„Ach“, sage ich, „sie war Antisemitin?“

„Nein, das bestimmt nicht“, sagt meine Mutter schnell. „Sie hat nur Juden gehasst.“

Wir führen dieses Gespräch im Jahr 2022, kurz bevor der russische Außenminister den jüdischen Präsidenten der Ukraine einen Nazi nennen wird, und es verschwimmt einem sowieso schon alles vor den Augen. Wie sind wir hierhin gekommen? Wie bin ich an mit meiner Mutter an diesen Esstisch gekommen, wo man so schnell so feine Unterschiede macht zwischen Antisemitismus und Hass? Und werden wir jemals wieder von hier weg kommen?

Und wie kommt der Salznapf mit dem Davidstern in den Haushalt einer Frau, die „nur“ Judenhasserin war, und wie landet er dann bei meiner Mutter? Wie gelingt es ihr dann, den Davidstern jahrzehntelang zu übersehen und sich gleichzeitig jahrzehntelang daraus zu bedienen? Während ihr Mann, mein Vater, Reichsadler und Hakenkreuz auf seinem alten Geodreieck nicht übersieht und sorgfältig abkratzt, um es dann bis ans Ende seines Lebens weiterzubenutzen? Wobei sie ihn bestimmt vor meinem Bruder und mir geschützt hätte, wenn wir damals schon gelebt hätten – man darf Papa nicht stören! Papa sein ist schwer!!

Ich packe den Salznapf ein, und als ich wieder in Berlin ankomme, kann ich ihn nicht mehr finden. Nicht nur der Davidstern, der ganze Salznapf ist unsichtbar geworden.

Erst ein paar Tage später rollt er plötzlich doch noch bleischwer aus dem Pullover, in den ich ihn eingewickelt hatte.

3. Bundesvater

Gerhard Schröder (SPD) hat als Bundeskanzler – als Bundesvater – ein System zur Bestrafung von Armut entwickelt, gemeinsam mit einem korrupten VW-Manager, der später wegen Untreue und Begünstigung verurteilt wurde, nach dem aber dieses System – Hartz – trotzdem bis heute benannt ist. Bekannt ist außerdem Schröders freundschaftliche Beziehung zu Vladimir Putin, an der er auch nach dessen Überfall auf die Ukraine festhält. Der New York Times sagte Schröder in dem inzwischen berüchtigten Interview, die Massaker von Butscha könne Putin unmöglich persönlich befohlen haben.

Wie sind wir hierhin gekommen?

Werden wir jemals wieder von hier weg kommen?

Denn das war ja exakt der Satz der begeisterten deutschen Nationalsozialist*innen, als man sie nach Kriegsende mit den Konzentrationslagern konfrontierte: Davon könne der Führer unmöglich gewusst haben!

Das war der Satz von damals. Das ist Schröders Satz von vor fünf Minuten.

Wie bekommt man so eine Verdrängungsleistung hin? Wie hart muss man trainieren, was muss man sich antun, um das nicht zu merken? Hat Schröder sich selbst die Augen ausgestochen, um sich selbst nicht sehen zu müssen? Oder hat er nur gnadenlose Schmiereinschauspielerei abgeliefert, mit deren Hilfe die Gesellschaft sich ihre eigenen Verdrängungswünsche befriedigt? Und was hat meine Mutter getan, um den Davidstern auf dem Salznapf nicht sehen zu müssen?

Seien wir ehrlich: Es hat in Deutschland so etwas wie Vergangenheitsbewältigung nicht nur nie gegeben, sie war auch nie geplant.

4. Schlusswort

Danke fürs Abonnieren. Danke fürs Weitersagen, Dank im Voraus für Feedback aller Art. Und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht. Oder ihr werft mir einfach ein paar Münzen in den Familien-Salznapf mit dem Davidstern!

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

LINKS

Das berüchtigte Interview:

https://www.nytimes.com/2022/04/23/world/europe/schroder-germany-russia-gas-ukraine-war-energy.html (Öffnet in neuem Fenster)

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