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„Wir sind nicht mehr die Einzigen, die intelligent, kreativ und empathisch sind.“

Andreas Grün ist als Head of Technology New Media und Manager des KI-Portfolios im ZDF derzeit einer der gefragtesten Mitarbeiter im Haus. Und nicht nur da: Spätestens seit der Wirtschaftsinformatiker mit seinem Team die Personalisierung der ZDFmediathek umgebaut hat, ist Andreas ein angesagter Speaker, wenn es um Medien und KI geht. Er setzt bei seinem Ansatz zur Personalisierung auf der öffentlich-rechtlichen Plattform auf Diversität und Serendipität. Das heißt, den Nutzer:innen werden auch Programme angeboten, die sie gar nicht gesucht und erwartet haben, die sie aber trotzdem interessieren könnten. Das ist revolutionär anders als bei Streamern wie z.B. Netflix, die meist nur "more of the same" anbieten. Ich kenne Andreas schon seit vielen Jahren und liebe seine Art, klug, offen, mit Begeisterung und Selbstironie tief in Themen einzusteigen. In unserem Gespräch über KI geht es am Ende um nichts Geringeres als die Zukunft der menschlichen Intelligenz und Kreativität.

Tanja Deuerling: Wie hat ChatGPT im November 2022 dein Leben verändert?

Andreas Grün: Ehrlicherweise war die erste Hürde, ChatGPT richtig auszusprechen. Tschatschtipitie - das ist ja Lautmalerei (lacht). Ich habe es erst ein bisschen ignoriert, weil ich die erste Version damals relativ schlecht fand. Natürlich kann man nie so ganz die Brille des Experten absetzen und sieht die Fehler. Von Leuten, die eigentlich nichts damit zu tun haben, gab es aber sehr starke, positive Reaktionen, und dann hat das Ganze seinen Lauf genommen.

Tanja: Du bist seit dem KI-Boom einer der wohl Most Wanted Man im ZDF. Kam das mit dem Start von ChatGPT?

Andreas: Wir haben seit vielen Jahren verschiedenste KI-Anwendungen am Start. Heute wird ja gerne vergessen, dass es so eine Welt davor gab. Aber wir setzen schon seit sieben, acht Jahren verschiedene Algorithmen und maschinelles Lernen ein. Es ist schwerer geworden, jetzt über KI zu sprechen, weil die Leute immer generative KI damit in Verbindung bringen. Aber generative KI ist jetzt nicht der Hammer, der auf jeden Nagel passt, sondern ein Werkzeug unter ganz vielen KI-Anwendungen. Empfehlungssysteme oder automatisierte Planungssysteme sind gerade in meinem Job noch wichtiger als die Anwendung von generativer KI - wobei sich das Verhältnis gerade dramatisch umdreht. Ich denke, dass die Zukunft in der Verbindung von beiden liegt. Generative KI ergänzt den KI-Werkzeugkasten, den wir bereits haben.

Tanja: Du hast mit deinem Team schon die Personalisierung der ZDFmediathek aufgebaut und dabei einen fast revolutionäreren öffentlich-rechtlicher Ansatz entwickelt. Was sind die besonderen Herausforderungen bei KI im öffentlich-rechtlichen Kontext?

Wir können uns nicht erlauben zu sagen: die KI-Revolution findet da draußen statt, und wir im öffentlich-rechtlichen Kontext hätten gerne noch mehr Geld.

Andreas: Wir sind grundsätzlich angehalten, ein relevantes Programm für alle Nutzer:innen-Gruppen zu machen. Ich kann KI bei der Content-Generierung, der Content-Planung, und bei der Content-Distribution sinnvollerweise einsetzen. Und deshalb muss ich es auch machen. Wir müssen effizient sein. Wir können uns nicht erlauben zu sagen: die KI-Revolution findet da draußen statt, und wir im öffentlich-rechtlichen Kontext hätten gerne noch mehr Geld (lacht). Das kann es nicht sein. Es ist sehr wichtig, dass wir die Effizienzmöglichkeiten sehen, die Vielfältigkeit, die wir gerade mit Personalisierung umsetzen können. Und im Öffentlich-Rechtlichen müssen wir das natürlich ganz anders transparent machen. Ich glaube, das ist die größte Herausforderung. 

Tanja: Verlangsamt die besondere Transparentmachung und Sorgfaltspflicht nicht den Prozess? Läuft man nicht Gefahr, dass man nicht schnell genug ist angesichts der Entwicklungen?

Andreas: Ja, das ist ein sehr guter Punkt. Es ist ein fortlaufendes Abwägen. Praktisch heißt das, wir nehmen auch Sprachmodelle von Anbietern auf dem Markt, einfach um schnell zu sein und um die Anwendungsfälle und Effizienzpotenziale auszuloten. Gleichzeit fragen wir uns, was sind eigentlich die Dinge, die wir selbst beitragen können? Wo können wir mit den Daten, die wir haben, sinnvoll einsteigen? Das kostet Zeit, richtig. Aber die Zeit überbrücken wir, indem wir uns bei verfügbaren Services bedienen, Use-Case identifizieren und unsere Organisation dafür bereit machen. AI-Literacy ist das große Stichwort. Die besten Werkzeuge helfen einem nichts, wenn man nicht weiß, was man damit eigentlich tun kann. Das heißt, man muss in den Dschungel reingehen, muss es ausprobieren. Man nimmt das Werkzeug von der Stange, arbeitet damit und sagt dann, okay, wie machen wir es richtig, wie machen wir es nachhaltig und wie machen wir es öffentlich-rechtlich.

Tanja: Du hast die KI-Grundsätze des ZDF maßgeblich mitentwickelt. Die beziehen sich hauptsächlich auf den Einsatz im Journalismus. Wie siehst Du den Einsatz von generativer KI im kreativen Bereich, zum Beispiel im Bereich Fiktion? 

Wir müssen viel früher, als wir das vor einem Jahr gedacht haben, über personalisierte Trailer, über personalisierte Videos und über ganz personalisierte Filme nachdenken.

Andreas: Im Journalismus geht es um Sache wie Deepfakes, da müssen wir reagieren. Da ist eine neue Technologie, die uns fordert, vielleicht sogar überfordert. Deshalb haben diese Grundsätze einen etwas defensiveren Charakter, auch wenn die Chancen ganz vorne stehen. Das ist das Pflichtprogramm. Die Kür ist in der Fiktion. Da gibt es mehr Freiheitsgrade und da fangen wir gerade erst an. Der Release von Sora hat gezeigt, okay, wir reden nicht in fünf Jahren darüber, dass es komplett generierte Videos gibt, sondern die gibt es jetzt schon in einer guten Qualität. Das heißt nicht, wir dürfen uns, sondern wir müssen uns damit beschäftigen. Wir müssen viel früher, als wir das vor einem Jahr gedacht haben, über personalisierte Trailer, über personalisierte Videos und über ganz personalisierte Filme nachdenken. Im Bereich Fiction erwarte ich, dass jetzt die große Diskussion erst losgeht.

Tanja: Was sagst Du Kolleg:innen aus dem ZDF, wenn sie fragen: Andreas, was kann ich nutzen? Wie soll ich damit umgehen, dass es so viele Grauzonen gibt?

Andreas: Es ist okay, wenn wir am Anfang explorativ unterwegs sind und Dinge probieren, die auch schiefgehen. Sich auf den Weg machen, keine Angst haben, das ist wichtig. Alle experimentieren momentan. Der ganze Markt experimentiert. Stehen zu bleiben, Angst zu haben, sich nicht in den Fahrersitz zu setzen, ist die viel größere Gefahr, als jetzt zwei, dreimal komplett gegen die Wand zu fahren. Wir werden auch ein, zwei Fehler machen. Aber das ist in Ordnung. Mit der Technologie ist das nicht anders möglich.

Stehen zu bleiben, Angst zu haben, sich nicht in den Fahrersitz zu setzen, ist die viel größere Gefahr, als jetzt zwei, dreimal komplett gegen die Wand zu fahren. 

Tanja: KI wird die Arbeitswelt total verändern. Was glaubst du, welche Kompetenzen künftig besonders wichtig sein werden?

Andreas: Ich glaube, die Aufteilung von Arbeit zwischen Menschen und Maschine zu hinterfragen, ist das Allerwichtigste. Das ist nicht nur eine Führungsaufgabe, das fordert auch jeden einzelnen Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin. Grundlage dafür ist, der Technologie gegenüber offen zu sein. Teamfähigkeit bekommt eine andere Note. Das Team ist jetzt eben nicht nur "die Menschen, mit denen ich arbeite", sondern es sind auch noch diese Maschinen, die Dinge produzieren. Wir dürfen nicht die Abgrenzung suchen und sagen, das ist die Maschine, das ist die kalte Hand, das ist das kalte Herz, die kann das gar nicht. Diese Offenheit, diese Reflektionsfähigkeit, so anstrengend das auch immer ist und so sehr das auch an das Selbstverständnis von einzelnen Kolleginnen und Kollegen geht, ist eine der grundsätzlichen Voraussetzungen dafür, dass wir uns weiterentwickeln. Dass wir nicht am Schluss in einem Museum leben, bei dem alles vom Menschen gemacht wird wie vielleicht vor fünf Jahren, und die Welt da draußen ist inzwischen weitergegangen. Das können wir uns nicht erlauben. Begeisterungsfähigkeit wäre gut, aber mindestens Offenheit braucht es. Wie du gesagt hast, es wird sich alles komplett ändern. In jedem Bereich wird das ankommen. Es gibt keinen, der ausgenommen ist.

Wir dürfen nicht die Abgrenzung suchen und sagen, das ist die Maschine, das ist die kalte Hand, das ist das kalte Herz, die kann das gar nicht. 

Tanja: Künstliche Intelligenz simuliert menschliche Intelligenz. Und sie nimmt uns Stück für Stück das Denken ab. Das ist meine Lieblingsfrage: Wird KI uns Menschen dadurch dümmer machen? Ich habe noch keine gute Antwort.

Andreas: Eine sehr gute Frage. Das hat man ja schon bei anderen Medien oder Technologien behauptet. Ich glaube, bei Menschen, die offen sind im eben genannten Sinne, wird es neue Möglichkeiten eröffnen. Es wird uns als Gesellschaft auf ein anderes Bewusstseins-, Effizienz- und Reflektionsniveau heben. Ich glaube auch, dass das unser Verständnis von Kreativität, Empathie und Intelligenz verändern wird. Wenn man die Phase, in der man die Abgrenzung sucht, überwunden hat, kann man vielleicht auch eine neue Form von Intelligenz und Kreativität finden. Ich freue mich, in dieser Zeit zu leben, weil es so schnell geht. Also, wir verlieren nichts. Wir verlieren nur unser Alleinstellungsmerkmal. Wir sind nicht mehr die Einzigen, die intelligent, kreativ und empathisch sind. Das würde ich jetzt sogar schon sagen.

Tanja: Lieber Andreas, vielen Dank!

Andreas Grün ist Head of Technology New Media in der HR Digital Medien im ZDF. Er ist verantwortlich für die technologische Entwicklung der ZDFmediathek mit den Schwerpunkten Personalisierung, Algorithmen, Automatisierung und Architektur. Darüber hinaus ist er für das Management des KI-Projektportfolios innerhalb der Abteilungen Kommunikation, Planung und Vertrieb verantwortlich.  Bevor er 2008 als Planungsingenieur in die IT-Abteilung des ZDF eintrat, war er mehrere Jahre selbständig tätig. Andreas hat einen Abschluss in Wirtschaftsinformatik.

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