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Der Krieg hinterlässt seine Spuren. Auch auf dem Markusplatz.

Wie sehr die italienische Linke durch den russischen Angriff auf die  Ukraine verunsichert ist, zeigte sich sogar in Venedig, wo am Mittwoch demonstriert wurde: Angekündigt war ein «Marsch für den Frieden in der Ukraine», bei dem die Ukraine allerdings ziemlich schnell auf der Strecke blieb. Denn auf dem Weg vom Denkmal der toten Partisanin bis zum Markusplatz wurde weniger gegen den Überfall Putins protestiert, als viel mehr gegen „die NATO“ und/oder die kapitalistische Weltverschwörung. Dies alles im Zeichen eines wie auch immer gestalteten Friedens.  

Es mag daran gelegen haben, dass sich die venezianischen Veranstalter auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen wollten: Frieden! Denn den wollen schließlich alle - außer Putin, würde ich sagen. Wobei ich damit bei dem venezianischen Friedensmarsch allerdings eine Minderheitenmeinung vertrat. Viel mehr wurde in den Reden der ominöse  Frieden strapaziert - nicht nur vom Patriarchen von Venedig, sondern auch von allen anderen Veranstaltern  (Kreuzfahrtgegner No Grandi Navi (Opens in a new window), Anpi (Opens in a new window) nationale Vereinigung  der Partisanen, Gewerkschaften, Pax Christi (Opens in a new window), Emergency (Opens in a new window) und diverse Studentenvereinigungen), die - ähnlich wie Politiker - die Kundgebung vor allem dafür nutzten, für ihre Ziele zu werben. Von der Ukraine, von Putin und seinen Lügen war erst die Rede, als die Ukrainerin Natalia das Unwissen und Desinteresse der Italiener kritisierte, für die kein Unterschied zwischen der Ukraine und Russland bestehe. Am Ende kam auch noch eine kleine Gruppe junger Ukrainer zu Wort, die, in die ukrainische Fahne gehüllt, kühn eine Flugverbotszone für ihr Land forderten. Was bei manchen auf dem Markusplatz prompt Schnappatem auslöste. 

Seitdem das italienische Parlament am 28. Februar Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen hat, ist hier kein Halten mehr. Durch den Krieg sind Gewissheiten abhanden gekommen: Wer sind die Guten und wer die Bösen? Bislang waren vor allem die Rechten von Salvini über Berlusconi bis zu Meloni als Putin-Freunde bekannt - auch wenn es bei genauerem Blick in Italien keine Partei gibt, in der sich nicht Putin-Versteher betätigt hätten: In der Demokratischen Partei hat sich besonders Matteo Renzi hervorgetan, der als Ministerpräsident ungeachtet des europäischen Embargos nach der Besetzung der Krim den Verkauf von 94 gepanzerten Fahrzeugen an Russland genehmigte. Bei den Fünfsternen gilt (der nach der Zustimmung zur Regierung Draghi aus den Fünfsternen ausgetretene) Alessandro Di Battista als  Russlandfreund - was nicht zwingend Putinversteher heißt, aber daran vorbeischrammt. Auch weil nicht wenige Grillini Putin stets als potentiellen "Systemsprenger" betrachtet haben.

Wie immer in solchen Momenten der Verunsicherung wird die italienische Verfassung von allen strapaziert, derzufolge Italien laut Artikel 11 den Krieg "als Mittel der Aggression gegen die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten" ablehnt."

 »Allerdings gibt es hier keine internationale Streitigkeit, sondern nur Putins riesige Armee, die die Existenz der Ukraine als souveränen Staat aufheben will" gibt der Philosoph Paolo Flores D'Arcais (Opens in a new window) zu bedenken. "Eine Aggression unterscheidet sich aber abgrundtief von einem Streit, das wissen selbst kleine Kinder, das wissen auch die Steine, und das sollten auch die Erwachsenen wissen, ohne ein Wörterbuch zu Rate ziehen zu müssen«,  schreibt er  in einem Beitrag (Opens in a new window), der auch von der Tageszeitung Il Fatto Quotidiano veröffentlicht wurde - unter der warnenden Überschrift "Andere Meinung". Da verteidigt Flores D'Arcais nicht nur die italienischen Waffenlieferungen (allein das schon eine Todsünde für italienische Linke), sondern unterstützt auch die Forderung nach einem Flugverbot über der Ukraine. Im Hinblick auf die Friedensdemonstration am Samstag in Rom schreibt er: »Ich hoffe daher, dass in San Giovanni viele Menschen "Putin go home" und "Waffen für die ukrainische Demokratie" rufen werden, anstatt des beschämend ponziuspilatesken "die Verantwortlichkeiten beider Seiten, Putins Russland auf der einen und der NATO auf der anderen Seite, sind klar". In diesem Krieg gibt es kein Russland gegen die Ukraine. Es ist Putins Russland, das nicht Russland ist«.

In den Socials ist in diesen Tagen die Hölle los. Da ist Putin für manchen im Grunde sogar Pazifist:  "Wenn Putin nicht für den Frieden wäre, dann hätte er die Ukraine schon längst dem Erdboden gleich gemacht", schrieb jemand auf Facebook unter meine Videos von der Demonstration in Venedig. Jetzt könnte man sagen: Okay, ist einer der vielen Social-Idioten, oder ein, wie man hier sagt,  leone da tastiera, ein Tastaturlöwe. Von denen es ja jede Menge gibt. Ein Impfgegner verbreitete hier in Venedig  sogar die Gleichung "No Vax = No War": 

Ja, die Verunsicherung ist groß. So groß, dass  einer der No-Vax-Anführer im Veneto, Riccardo Szumski, von seinen Anhängern wüst beschimpft wurde, weil sich Szumski erlaubt hatte, Putin als "würdigen Nachfolger Stalins" zu bezeichnen. Szumski ist polnischen Ursprungs, sein Vater hat zwei Jahre in einem sowjetischen Straflager verbracht. 

Putin-Versteher sind jetzt also auch an Orten zu finden, an denen man sie nicht erwartet hätte. Wobei es natürlich nicht um ein Putin-Lob tout court handelt, sondern mehr um ein raunendes "Die Nato/der Westen/die jüdisch-kapitalistische Weltverschwörung hat Putin provoziert, er hatte keine andere Wahl". Die (linksliberale) katholische Tageszeitung Avvenire sorgt sich bereits um den Geisteszustand vieler Katholiken und schreibt unter der Überschrift "Ukraine" (Opens in a new window) : "Von No-Vax bis Pro-Putin: im Internet auch Stimmen von Katholiken, die "gegen alles" geworden sind". 

In diesem Zusammenhang taucht auch in Italien immer wieder die Theorie vom falschen Versprechen der Nato nach dem Fall der Mauer auf. Deshalb fand ich diesen Artikel der ZEIT (Opens in a new window) sehr erhellend.

Wenn man so will, befinden wir uns also in einer Zeitenwende. Und das gilt auch für Venedig. Denn seit 1997 ist es den Venezianern verboten, auf dem Markusplatz zu demonstrieren. Eine Ausnahme wurde nur 2001 gemacht, für eine Solidaritätsdemonstration nach den Terroranschlägen des 11. September. Dass der Präfekt dieses Mal seine Zustimmung gegeben hat, mag deutlich machen, wie ernst die Situation ist. 

So gesehen, war es für die Venezianer während der Demonstration eine gewisse Genugtuung, den Raum wieder einnehmen zu dürfen, der sonst nur Touristen vorbehalten ist. Daran dachten wir, als wir über die Brücke gegenüber von der Seufzerbrücke Richtung Markusplatz marschierten. Am Karnevalssonntag, als laut der venezianischen Lokalpresse zwischen 170 000 und 200 000 Touristen in die Stadt kamen (vier mal so viel wie Einwohner), sind die Touristen prompt in diesem Nadelöhr stecken geblieben: Sieben Minuten lang ging nichts vor oder zurück, bis die Polizei einschritt. 

Seit Mittwoch leuchtet auch die Fenice in den ukrainischen Nationalfarben -

was unweigerlich an die Affäre Waleri Gergijew erinnert, die auch in Venedig große Wellen schlägt. Nachdem man  in München, Mailand und anderen Städten praktisch über Nacht entdeckte, dass Waleri Gergijew ein enger Putin-Freund ist, der nicht die Absicht hat, sich davon zu distanzieren - auch weil das ja, wie ein Kommentator in der ZEIT richtig anmerkte, bislang immer unter Kunstfreiheit (Opens in a new window) lief, hat die venezianische Lokalpresse den Dirigenten beherzt durchleuchtet. Weniger unter künstlerischen, als unter wirtschaftlichen Kriterien: Was ihn vor allem verdächtig macht, ist, dass er Erbe der venezianischen Mäzenin Yoko Nagae Ceschina (Opens in a new window) ist, die eine seiner großen Bewunderinnen war. Yoko Nagae Ceschina war eine japanische Harfenistin, die mit einem Stipendium nach Venedig kam, in die sich der dreißig Jahre ältere Industrielle Renzo Ceschina Hals über Kopf verliebte, sie heiratete und bereits fünf Jahre später starb (allein das ein Roman). Von ihr erbte Gergijew nicht nur den Palazzo Barbarigo (Opens in a new window) am Canal Grande, sondern auch das Caffè Quadri am Markusplatz, dazu noch Geschäfte am Markusplatz und in San Marco, Palazzi in Mailand und Besitztümer an der Costa Amalfitana - kurz: ein Vermögen von 150 Millionen Euro. 

Wenn Waleri Gergijew gelegentlich das Orchester der Fenice dirigierte, habe er stets die Gelegenheit genutzt, um ein Auge auf seine Besitztümer zu werfen, wie La Nuova weiß. Die nun beklagt, dass sich die Situation für Gergijew verkompliziert habe. Besitz kann ja auch Belastung sein.

Wie ich bereits in meinem letzten Newsletter (Opens in a new window)  schrieb, fühle ich mich in diesen Tagen wie in einer Zeitmaschine gefangen. Wenn ich die Bilder von den russischen Demonstranten sehe, die festgenommen werden, muss ich an den Moment denken, als ich als junge Journalistin zum ersten Mal in den "Ostblock" geschickt wurde: Ich sollte in Polen, Ungarn und der Tchechoslowakei eine Reportage über die "Jugend im Ostblock" machen,  als in diesen Ländern Aufruhr herrschte (es war im Jahr 1988 - aber keiner von uns hätte geglaubt, dass ein Jahr später die Mauer tatsächlich fallen würde). In Prag führte ich ein Interview mit einem Mädchen, das vor meinen Augen verhaftet wurde. Diesen Augenblick, meine Hilflosigkeit angesichts des Gewalt der Geheimagenten, werde ich nie vergessen. Und in Warschau hatte ich mich mit dem Priester Stefan Niedzielak angefreundet - der wenige Monate später vom Geheimdienst ermordet wurde.

An all das muss ich jetzt wieder denken, wenn ich die Verhaftungen in Putins Russland sehe, wo die meisten internationalen Medien aufgrund des neuen russischen Mediengesetzes ihre Arbeit eingestellt haben und jetzt auch Twitter und Facebook blockiert wurden.

Diejenigen, die an Kriegen und anderen Katastrophen stets verdienen, sind natürlich die Mafiaorganisationen der ganzen Welt. In diesen Tagen habe ich mich auch daran erinnert, wie die Übersetzerin Natascha uns in Odessa die Sauna zeigte, in der ein Mafiaboss ermordet wurde. 

Für die ZEIT habe ich in dieser Woche darüber geschrieben, wie es der Mafia gelungen ist, sich seit dem Paten in Filmen stets zu verklären: 

https://www.zeit.de/kultur/film/2022-03/der-pate-50-jahre-mafia-film-trilogie (Opens in a new window)

 Aber: Die Hoffnung stirbt zuletzt! Und deshalb will ich überall Zeichen der Solidarität für die Ukraine sehen. Sogar in venezianischen Kanälen. 

In diesem Sinne grüßt Sie herzlich aus Venedig, Ihre Petra Reski 

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