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Nullnummer

Nach der ersten Nacht, in der ich nicht schlief, in der ich die Sterne am Himmel sah, so klar und wahr sie nur leuchten konnten, betrat ich am Samstagvormittag das Bürgerbüro der Stadt. Ein Mann, kurzärmliges, blümerantes Hemd, halbrandlose Brille, überreichte mir zwei Rollen Gelbe Säcke und einen Abfallkalender.

Das war es also, ich war wieder Zuhause. In einer Stadt, die ihre neuen Bürger mit Müllbeuteln willkommen hieß.

Ich lief in die Stadtbücherei. Als Kind hatte ich mir dort Comics ausgeliehen, vom Kalifen, der Kalif werden wollte, anstelle des Kalifen, von Lucky Luke und Tim und Struppi. Es gab noch immer das Aquarium mit den winzigen Fischen gleich neben den Toiletten und die große Abteilung mit CDs und DVDs. Ich erinnerte mich daran, wie ich mir an dem Tag, an dem meine Großmutter väterlicherseits starb, ich war sieben, bei einer Lesung des Kinderbuchautoren Knister in die Hose machte. Jedenfalls glaube ich, dass der so hieß.

Dem Reflex, mir einen Jahresausweis für 16 Euro zuzulegen, widersetzte ich mich nicht. Ich lieh ein Buch über den Niedergang der SPD aus, verfasst vom ehemaligen Bürgermeister der Stadt, und fand in den Regalen allerlei Titel, die mir in besser sortierten Buchhandlungen manchmal fehlen. Ich war zufrieden.

Während ich meine Bücher in meinen Stoffbeutel steckte, zu den Gelben Säcken und dem Abfallkalender, kam eine Frau in die Bücherei. Sie trug einen bodenlangen Regenmantel, dabei war draußen keine Wolke zu sehen. Sie fragte die Dame am Tresen, wie lange heute geöffnet sei. Bis 13 Uhr. „Dann muss ich vorher noch Lotto spielen“, sagte die Frau mit Regenmantel, und ging vermutlich Lotto spielen.

Die Kleinstadt lebt von Ritualen, mehr noch als die Großstadt, in der sich jeden Tag alles neu ergeben könnte, rein theoretisch jedenfalls. Früher ging ich mit meiner Mutter und meiner Oma jeden Samstagvormittag in die Stadt, wie wir sagten, zu Karstadt oder Hertie, je nachdem in welchem Jahr, in die Bücherei, zu Tchibo oft, zu Hussel, abschließend zur Bäckerei. Dort tranken wir Kaffee, ich Kakao, und aßen ein Stück Kuchen oder einen Berliner. Ich wuchs als Kuchenkind auf.

Die letzten sechs Jahre wurde ich regelmäßig geweckt von einem sehr ambitionierten Herren, der auf der anderen Straßenseite meiner Großstadtwohnung morgens ab sieben Uhr in der Früh das Laub wegpustete. Ich verachtete ihn für seine Gründlichkeit, in einer Stadt, in der es mehr Mercedes G-Klassen als Bäume gab.

Nun liegt in meiner Hütte ein Laubsauger. Kein Laubbläser, sondern so ein richtiger mit Auffangsack. Die Tage hatte ich den ernsthaften Impuls, eine Harke in die Hand zu nehmen, und den Rasen von Birkenlaub zu befreien. Ich tat es nicht. Durch das Fenster sah ich im Garten einen kleinen Vogel, dessen Bezeichnung ich nicht kannte, der mir aber schön vorkam.

Als ich neulich jemandem erzählte, dass dieser Umzug anstand, fragte er mich, ob ich sich das wie Scheitern anfühle. Mein Instinkt verneinte das schnell, aber die Frage lässt mich nicht los. Wenn ich ehrlich bin, begreife ich sie nicht. Du?

Woran genau wäre ich gescheitert? Wären meine neuen und alten 60.000 Mitbürger auch gescheitert? Sahen Großstädter, die kaum etwas anderes kannten als die Großstädte dieser Republik, Kleinstädte als failed cities an? Ist das die Arroganz, von der die Rede ist, wenn Leute rechtfertigen, dass sie Trump wählen?

In meiner Nachbarschaft waren die Häuser geschmückt, mit Kürbissen und Skeletten, Totenköpfen und künstlichen Spinnennetzen. Die Menschen grüßen freundlich, wenn sie sich begegnen. Sie heben im Auto die Hand, wenn sie aufeinander warten. Sie stellen sich den neuen Nachbarn vor und schauen sich in die Augen. Sie reden miteinander. Vor dieser Nähe floh ich einst, nun holt sie mich wieder ein.

Nummer 0, 1. November 2024

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