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Die Sprache der Geliebten

Joan Tower: Wild Purple (1998)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Opens in a new window).

Bei moderner Musik für klassische Instrumente ist das Publikum schnell gelangweilt, weil ihm das, was da passiert, beliebig erscheint, offenbar keine Bedeutung hat. Einfach eine Aneinanderreihung von Tönen, wenig Einprägsames, nichts Schönes.

Was die Zuhörenden vermissen, sind ihre drei ästhetischen Anker Harmonie, Rhythmus und vor allem Melodie, also eine singbare Tonfolge, die als abgeschlossen wahrgenommen wird. Das sagt sich so leicht. Wann wird etwas als abgeschlossen wahrgenommen? Woher wissen wir, dass etwas zu Ende ist? Singbar sind Tonfolgen, wenn sie monophon sind, also einstimmig. Und idealerweise ist eine Melodie etwas, was man sich merken, woran man sich erinnern kann.

Man kann sich etwas merken, wenn es für einen Sinn ergibt, wenn es an etwas anknüpft, was man schon weiß. Ich kann mir einen deutschsprachigen Text merken, aber keinen auf Dänisch, weil ich kein Dänisch kann. Und wenn es einen emotionalen Gehalt hat, ist es noch einfacher, sich etwas zu merken. Wie leicht lernt sich die fremde Sprache der Geliebten! Kurz gesagt: Ich kann mir merken, was ich verstehe und was mich berührt.

Das ist in der Musik nicht anders. Wenn ich die Regeln nicht kenne (nicht mal intuitiv), verstehe ich die Musik nicht. Ich kann nicht berührt werden, genauso wenig wie ich ergriffen sein kann von einem dänischen Gedicht. Ich kann mir also auch nichts merken und weiß nicht, ob und wann etwas abgeschlossen ist. Alles daran ist im besten Fall rätselhaft, aber meist frustrierend und langweilig.

Die Bratschistin Kallie Sugatski kennt diese Probleme. Sie ist (wie der Autor dieser Zeilen) ein Fan von “Wild Purple”, einem kurzen Stück für Bratsche solo. Komponiert hat es 1998 die Amerikanerin Joan Tower und es ist die Art moderne Musik, wie sie viele ratlos zurücklässt, weil ihre Anker aus Harmonie, Rhythmus und Melodie nicht greifen. 

Sugatski sagt, dass das Publikum, das in moderner Musik Melodien vermisst, nicht fündig wird, weil es nach der falschen Sache sucht – wie barocke Ornamente in einer Bauhaus-Villa. Es gibt aber natürlich trotzdem unglaublich viel zu entdecken in solcher Musik, aber wie stellt man es an? Sugatski schlägt vor, auf “musikalische Gesten” zu achten.

Man kennt das Phänomen, dass man unwillkürlich bestimmte Bewegungen zu Musik macht, und damit meine ich nicht nur das Mitstampfen bei Märschen, sondern zum Beispiel Bewegungen der Hände, des Oberkörpers, des Kopfes, der Stirn, der Augen. Aber auch umgekehrt hat man eine Vorstellung davon, wie eine menschliche Bewegung musikalisch umgesetzt werden könnte: Schluchzen, zögern, rucken, Anlauf nehmen, in sich zusammenfallen – all diese Gesten (und so viele mehr) sind Ausdrucksformen, die mit bestimmten menschlichen Bewegungen verbunden sind, die wir in Musik wiederfinden können. Wenn sich Musiker*innen oder Dirigent*innen unwillkürlich (oder auch kalkuliert) zur Musik bewegen wie Schauspieler*innen und sich in ihrem Gesicht tausend Ausdrücke zeigen, illustrieren sie damit einzelne musikalische Gesten – oder besser: sie verkörpern sie. 

Ein musikalisches Mittel (von sehr sehr vielen), mit dem solche Gesten zum Ausdruck gebracht werden kann, ist das Timbre: Wie klingt ein Ton? Die gleiche Note kann sehr unterschiedlich gespielt werden. Auf einem Streichinstrument wie der Bratsche können die Saiten gestrichen oder gezupft werden, sie können an unterschiedlichen Stellen gestrichen werden, in unterschiedlicher Geschwindigkeit, mit verschieden starkem Druck des Bogens, und der Finger, der die Saite abdrückt, kann mehr oder weniger stark vibrieren. Der gestalterische Fundus bei der Wiedergabe schon eines einzigen Tons auf einem einzigen Instrument ist gigantisch. 

Deshalb lassen sich auch ohne eingängige Melodie oder knackigen Rhythmus komplexe emotionale Zustände vermitteln. In den sieben Minuten von Joan Towers Musik finden sich so unterschiedliche Ausdrücke wie Zorn, Schüchternheit, Introversion und Leidenschaft – und wenngleich diese Eindrücke subjektiv sind, lohnt es sich, dafür offen zu sein, sie in den musikalischen Gesten moderner Musik vorzufinden.

Zu theoretisch? Hier zeigt die Bratschistin Kallie Sugatski mit konkreten Beispielen aus Towers Stück, wie ausdrucksstark diese Musik sein kann:

https://musaic.nws.edu/videos/joan-tower-wild-purple-contemporary-music-traits-an (Opens in a new window)

Nach all der Vorrede nun endlich zum Towers Stück selbst. Der jamaikanisch-amerikanische Bratscher Jordan Bak spielt “Wild Purple” von Joan Tower von 1998. Achtet auf die Gesten in der Musik, aber auch in Körperhaltung und Mimik des Solisten. Es lohnt sich:

https://www.youtube.com/watch?v=qL8dWDw7Mwg (Opens in a new window)

Und hier findest du das Stück bei den Streamingdiensten (Opens in a new window).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

P.S.: Danke, dass du die Schleichwege liest. Wenn dir dieser Newsletter ein Schlüssel zu klassischer Musik ist, unterstütze meine Arbeit auf Steady (Opens in a new window). Als kleinen Dank erhältst du eine Spotify-Playlist mit einhundert Lieblingsstücken zum Entdecken. Merci!

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