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Ich habe Venedig immer als Stadt "menschlichen Maßes" bezeichnet,  nicht nur im Hinblick auf die Entfernungen, sondern auch was die menschlichen Beziehungen betrifft. Und ja, bis vor einigen Jahren stimmte das auch noch - da war Venedig eine Stadt, in der man sich noch begegnete. Heute aber sind die Begegnungen zur Seltenheit geworden, immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich in den durch Venedig wogenden Menschenmengen nach bekannten Gesichtern suche, es werden immer weniger. Früher fielen die Touristen unter den Venezianern noch auf, weil sie anders laufen, zerstreuter, weil sie sich, wie der Conte Marcello sagte, wie Segelboote bewegen, die den Wind auf beiden Seiten der Gassen suchen: Heute sind es die wenigen Venezianer, die auffallen, weil sie fluchen, wenn sie im Besucherstrom nicht vorankommen.

Ob uns genau dieses "menschliche Maß" nicht vielleicht abhanden gekommen ist, das haben wir uns in Venedig gefragt, als die venezianische Lokalpresse den Tod zweier alter Damen meldete: Livia und Gladis Naccari, die in ihrer Wohnung im Palazzo Contarini tot aufgefunden wurden. Sie waren seit zehn Tagen tot. Mindestens. 

Bemerkt wurde der Tod der beiden alten Damen nicht von den Nachbarn, nicht von Verwandten, sondern von einem Bauarbeiter, der vom Baugerüst in die Wohnung blickte und sah, dass eine Person reglos am Boden lag. 

Die beiden Schwestern wohnten einen Steinwurf vom Fenice-Theater entfernt, vermutlich sind sie auch mir oft begegnet. Nach ihrem Tod hieß es, dass sie sehr zurückgezogen gelebt hätten - nicht verwunderlich bei zwei über achtzigjährigen Damen, von denen eine die Wohnung nicht mehr verlassen konnte, weil sie die Treppenstufen nicht mehr schaffte. Der Pfarrer von Santo Stefano wurde befragt, die Kassierin des Supermarkts, die Kellner der Bar Al Theatro, in dem die beiden Damen stets Tramezzini gegessen hätten, der Blumenhändler - und alle bestätigten, dass die beiden Schwestern Hilfe stets abgelehnt hätten. Auch das nicht ungewöhnlich bei alten Damen, die hoffen, einen Rest Selbständigkeit zu bewahren und niemandem zur Last fallen wollen. 

Ihre Einkaufsstraße war die Calle della Mandola, die auch die meine war, solange sie existierte. Ich dachte an die Gemüsehändlerbrüder, die ich in meinem Buch (Opens in a new window) beschrieben habe, und die sie sich sicher gewundert hätten, wenn sie die Schwestern nicht mehr gesehen hätten. Da wo der Gemüsehändler war, werden heute geprägte Ledergürtel mit Monogramm verkauft. Vielleicht hätte sich auch der Fleischer gewundert, in dessen Fleischerei jetzt chinesische Handtaschen verkauft werden. Oder der Käsehändler, dessen Laden  in einen Eisstand verwandelt wurde. Ja, es gebe keine "sozialen Wächter" mehr in Venedig, sagte der Präsident des venezianischen Ärzteverbands: Die meisten Hausärzte leben auf dem Festland, weil die Mieten in Venedig zu hoch sind. Der ebenfalls auf dem Festland lebende Besitzer des Palazzo Contarini wurde auch befragt. Er erinnerte sich vor allem daran, dass die Schwestern die Miete stets pünktlich bezahlt hätten. 

Vermutet wird, dass erst die eine der beiden Schwestern starb und die andere an ihrem Leichnam wachte, bis auch sie starb. An Unterernährung.

Chinesen haben sich in Venedig nicht nur in der Calle della Mandola ausgebreitet, sondern praktisch in allen Gassen Venedigs, vorzugsweise in denjenigen mit dem größten Besucherstrom. Folglich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Chinesen auch den Markusplatz erobern würden.

Jetzt wird die legendäre und seit dem Hochwasser von 2019 geschlossene Totobar am Markusplatz von der, wie die venezianische Lokalpresse (Opens in a new window) verkündete, "langjährigen chinesischen Unternehmerin Patrizia" betrieben, die, wie die Nuova schreibt, ihr erstes Restaurant in Venedig vor 30 Jahren in der Calle dei Botteri, unweit des Rialto, eröffnet und chinesische Küche angeboten habe: »Dann änderten sich die Dinge nach und nach und die Familie wuchs, fügt sie hinzu. Sie betreibt auch La Nuova Valigia und das San Gallo.« 

In der Tat änderten sich die Dinge, seitdem die chinesische Familie in Venedig wuchs - und wie sie wuchs: Vor 30 Jahren gab es in Venedig 45 Geschäfte, die von Chinesen betrieben wurden, im Jahr 2010 waren sie bereits auf 528 angewachsen, im Jahr 2018 waren es  850, jetzt werden in Venedig  968 Geschäfte von Chinesen betrieben. Allein im ersten Jahr der Pandemie, 2020, wurden in Venedig 57 Geschäfte von Ausländern eröffnet – davon 42 von Chinesen. 

Den Venezianern ist "Patrizia" nicht nur als auf hohen Absätzen wandelnde Chanel-Louis-Vuitton-Cartier-Dior-Werbeträgerin ein Begriff, sondern auch, weil sie kurioserweise immer auftaucht, wenn in Venedig ein Geschäft, ein Restaurant oder eine Bar von Chinesen übernommen wird. Chinesen dominieren in Venedig heute nicht nur ganze Straßenzüge – mit Taschenläden, Handyhüllenläden, Ein-Euro-Läden, Muranoglasläden, Schuhläden, Billigmodeläden, Pizzerien, Bars und Take-Aways, sondern zunehmend auch den Tourismus: mit eigenen Hotels, Reisebussen, Reiseagenturen und Reiseführern für chinesische Touristen – deren Venedig-Besuch streng reglementiert ist: Sie werden nur zu den Geschäften geführt, mit denen zuvor eine Provision ausgehandelt wurde. Die sich vor der Pandemie, wie sich bei einer Prüfung durch die Finanzpolizei herausstellte, insgesamt auf zwei Millionen Euro belief, also keine Peanuts.

Mehr als die Hälfte der chinesischen Unternehmen im Veneto erklärt, keinen Verdienst gemacht zu haben – und bevor sich die Finanzpolizei für die Hintergründe interessieren kann, ist das Geschäft bereits an einen anderen chinesischen Strohmann übergeben worden. 

Früher war in Venedig nicht nur die Zahl der Restaurants und Souvenirgeschäfte reglementiert, sie durften auch eine bestimmte Entfernung zueinander nicht unterschreiten. All das war dazu gedacht, das normale Leben nicht dem Tourismus zu opfern. Aber dann legte das Europäische Recht die Liberalisierung des Marktes auf und seitdem gibt es hier mehr Take-Aways, Restaurants und Ramschläden als Einwohner. „Die europäischen Normen haben eine Liberalisierung erzwungen, Orte wie Venedig aber erfordern besondere Maßnahmen zum Schutz eines empfindlichen und zerbrechlichen Gefüges. Eine bestimmte Art von Handel und Handwerk zu gewährleisten, bedeutet, dieses soziale Gefüge zu bereichern, eine gesunde Wirtschaft zu fördern und den Wohnungsmarkt zu verbessern“, sagte mir einmal ein Finanzgeneral in einem Interview. 

Goldene Worte. 

Gestern wurde in Florenz gegen den Krieg (Opens in a new window) demonstriert. Okay, warum nicht, werden Sie jetzt vielleicht sagen, schließlich wurde ja praktisch schon überall demonstriert. In Italien aber wurde bei den Friedensmärschen, wie ich in meinem Newsletter geschrieben (Opens in a new window) habe, keineswegs für die Ukraine demonstriert, sondern mehr allgemein für "den Frieden": Man sei "equidistante" beeilten sich die Veranstalter stets hinzuzufügen, was so viel heißt wie "gleich weit entfernt von der Ukraine und von Russland". Die Demonstration in Florenz, bei der sich auch Präsident Selensky zuschaltete, wurde vom Bürgermeister indes präzis als Solidaritätsdemonstration für die Ukraine angekündigt. Und ich schließe mich den Worten des (Sympathien für die italienische Regierung sicher unverdächtigen) Philosophen Paolo Flores D'Arcais (Opens in a new window)an, der in einem offenen Brief den watteweichen Pazifismus der Linken (Opens in a new window)kritisierte: "Ich habe immer deutlicher den Eindruck, dass die pazifistischen Genossen von dem gewohnten Reflex beherrscht werden, dass sie niemals mit Regierungen (und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens) übereinstimmen können, die wir zu Recht kritisieren und gegen deren reaktionäre Entscheidungen in der Wirtschaft, Arbeitnehmerrechten, Gerechtigkeit oder Information wir kämpfen: Aber anstatt die Situation der "niederträchtigen Aggression" mit dem Maßstab der Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zu beurteilen (...), ergreifen sie Partei gegen die Regierung, wenn diese das einzig Richtige tut. Auch ich finde den Bürgermeister von Florenz Nardella aus tausend Gründen verabscheuungswürdig, aber wenn er die Demonstration organisiert, die hundert Städte in der ganzen Welt vereint (Opens in a new window), um sich mit den Ukrainern, die Widerstand leisten, zu solidarisieren, dann müssen wir mit ihnen sein."

Und jetzt das Positive: Seit ein paar Tagen bin ich halbe Italienerin! 🇮🇹🇩🇪 Keine sechs Jahre nach dem ersten Antrag hat es geklappt. Samt meines in der italienischen Welt nicht vorgesehenen Bindestrichs (Opens in a new window) in meinem Namen. Es war prosaisch und bewegend zugleich, als ich den Eid leisten musste: "Ich schwöre, der Republik die Treue zu halten und die Verfassung und die Gesetze des Staates zu achten“. Leider war der Bürgermeister nicht anwesend, nur eine Standesbeamtin im Wollpullover, die sich die Schärpe umgehängt und mir danach gratuliert hat. Aber gut, man kann nicht alles haben: die italienische Staatsbürgerschaft und die Glückwünsche des venezianischen Bürgermeisters!

Der erste, dem ich nach meinem Eid eine sms geschickt habe, war der Antimafia-Staatsanwalt Nino Di Matteo (Opens in a new window). Weil er für mich einer derjenigen ist,  die das Italien repräsentieren,  dem ich mich gehörig fühle.

Herzlichst grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski 

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