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Die letzten Venezianer - aus der Nähe betrachtet.

In Italien ist das Gesundheitssystem staatlich - und hat sich damit in einen bürokratischen Albtraum verwandelt. Der mich vor ein paar Tagen heimsuchte: Weil die für uns zuständige Stelle in Venedig bis Mai ausgebucht ist, musste ich zum Gesundheitsamt auf Burano. Der Weg von San Marco nach Burano dauert knapp anderthalb Stunden (40 Minuten Fußmarsch bis Fondamente Nove, 40 Minuten Vaporetto), was sicher schön ist, wenn man hier Ferien macht, nicht aber, wenn man hier seinen Alltag verbringt, es in Strömen regnet und das Gesundheitsamt von Burano nur aus zwei Zimmern besteht, vor denen man draußen warten muss. Der  Sicherheitsmann entschuldigte sich tausend Mal dafür, und als ich hörte, wie er alle alten Damen mit "Ciao tesoro" begrüßte und ihnen über die Stufen zurück zum Rollator half, ging die Sonne wieder auf. 

Der Sicherheitsmann kannte jede der Damen, die zur medizinischen Versorgung kamen und hinter einem Wandschirm verschwanden, er wusste wo und wie sie wohnen, er sprach darüber, wie unfassbar tapfer sie ihren Alltag bewältigen (eine war trotz des Regens barfuss in Sandalen gekommen), und ich fühlte mich von dieser Menschlichkeit plötzlich so berührt, dass mir der Verlust des menschlichen Maßes,  also dessen, was das Leben in Venedig immer ausgezeichnet hat, noch schmerzlicher bewusst wurde

Später, beim Kaffee mit einer der Lehrerinnen von Burano, erfuhr ich, dass mal wieder Klassen gestrichen werden: Das regionale Schulamt verschanzt sich hinter Vorschriften und weigert sich, anzuerkennen, dass das Leben auf einer Insel wie Burano oder Murano anders ist als in Mogliano Veneto oder Padua. Jetzt müssen Schüler von Murano auf Burano zur Schule gehen. Den Kindern werden lange Fahrten in mit Touristen überfüllten Vaporetti zugemutet - es fehlt der politische Wille, Venedig und seinen Inseln einen Sonderstatus zuzuerkennen und dafür zu sorgen, dass jede Insel ihre eigene Schule hat.

Aber was sage ich ... 

Um so mehr hoffe ich auf die italienische Übersetzung meines Buches, denn in Italien weiß man vom Schicksal Venedigs vielleicht sogar noch weniger als in Deutschland oder Frankreich. 

Venedig wird in Italien eigentlich nur wegen der enormen Kosten wahrgenommen, die das Flutsperrwerk Mose verschlungen hat (bislang fast neun Milliarden Euro) - eines Großprojekts, das die Venezianer stets abgelehnt haben. Zu Recht, wie man an diesem Foto sieht: 

Das was hier schwarz ist, sind die dicht mit Muscheln bewachsenen Fluttore. Das Ergebnis ist ebenso erwartbar wie verheerend. In Als ich einmal in den Canal Grande fiel (Opens in a new window) schrieb ich: 

„ ... schließlich weiß jeder in Venedig, dass alles, was sich in der Lagune befindet, vereinnahmt wird. Wir haben an unserem Bootssteg eine kleine Metalltreppe angebracht, die nach nur drei Monaten komplett zugewachsen war, mit Algen, Seepocken und Muscheln, mit Austern und Schnecken. Genau das wächst auch auf den Schleusentoren, die sich deshalb zu einem unfassbar ergiebigen Fischgrund entwickelt haben:“

Der italienische Rechnungshof hatte die Finanzpolizei beauftragt, nachzuforschen, ob die Fluttore tatsächlich instand gehalten werden. So konnten wir also das sehen, was wir bislang nur ahnten, denn normalerweise werden die Fluttore immer nur so gezeigt: 

Tatsache ist, dass Mose nicht nur ein Milliardengrab ist, sondern für die venezianische Lagune das Todesurteil bedeutet: Wie eine Untersuchung (Opens in a new window) bewies, hat Mose die Lagune schon jetzt verändert, nachdem die Fluttore zwei Jahre lang eingesetzt wurden: Die Salzwiesen sind gefährdet, weil sie nicht mehr regelmäßig mit Sedimenten überflutet werden: die Sedimente setzen sich jetzt in den Kanälen ab, die dadurch Gefahr laufen, zu verlanden. Ohne die Salzwiesen aber ist die Lagune tot.

Die Venezianer sterben aus und die Bars nehmen zu: Seit 2015 wurden in Venedig im Schnitt jährlich 100 (!) neue Bars, Restaurants und Take-Aways eröffnet, so dass im Sestiere San Marco eine Bar auf zwanzig Einwohner kommt: 173 Bars auf 3590 Einwohner. Und jetzt, nachdem der verbliebene öffentliche Raum unter dem Vorwand der Pandemie auch noch jenen Gastronomen zur Verfügung gestellt wurde, die über keine Terrasse verfügten, hat sich Venedig in ein einziges Freiluftrestaurant verwandelt. 

Veniceland ist so gut wie vollendet.

Um so mehr freue ich mich darauf, wenn es wieder wärmer wird - und das Boot wieder zum Einsatz kommt, so wie gestern Abend. 

https://www.youtube.com/watch?v=QMdCBwbZjfA (Opens in a new window)

Es ist zwar noch irre kalt hier, aber ein Boot bedeutet Freiheit, besonders in Venedig.

Herzlichst grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski

 

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