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Wie fühlt es sich an, Teil einer zerstörerischen Industrie zu sein und dabei zu wissen, wie dringend wir Klima und Ökosysteme schützen müssen? In dieser Treibhauspost lernen wir eine Person kennen, die als Model arbeitet und sich gleichzeitig stark einsetzt für den Erhalt unseres Planeten. Und wir finden heraus, wie sie diesen Widerspruch bewältigt.

#24 #Mode #Verantwortung #Porträt

Ein radikales Experiment

Lou Schoof ist Klimaaktivistin und arbeitet als Model in einer der schmutzigsten Industrien weltweit. Um den Widerspruch auszuräumen und Veränderungen in der Branche anzustoßen, fasst sie einen Entschluss.

I

Es regnet und windet in Manhattan. Mitten auf der Straße stehen Strandstühle und kleine Tischchen, darauf Cocktails. Drumherum Palmenblätter.

Zwei Tage lang wird das hier Lou Schoofs Arbeitsplatz sein. Ihre Arbeitskleidung: die neue Kollektion eines New Yorker Mode-Labels. Zwischen den Requisiten der künstlichen Strandlandschaft posiert sie für dessen nächste Kampagne.

Trotz des Wetters freut sich Lou auf den Job, gleichzeitig entgeht ihr nicht die Ironie dieses Settings: eine künstliche Traumlandschaft, wie sie so oft in der Werbung für Kleidung erzeugt wird – und die so weit weg ist von der Realität der Mode-Industrie.

Es ist ein Widerspruch, der Lou von Beginn ihrer Karriere an begleitet. Seit sie 17 Jahre alt ist, arbeitet sie als Model, sie fliegt durch die Welt, nach New York, Mailand, Los Angeles, London. Sie posiert für Magazine wie Vogue und für Marken wie Oysho, Zara und Uniqlo. Sie arbeitet, sehr erfolgreich, in einer der schmutzigsten Industrien weltweit.

Gleichzeitig steht sie für alles, was konträrer nicht sein könnte. Sie brennt für Themen rund um Nachhaltigkeit; in ihrer Freizeit liest sie Studien und Berichte, will verstehen, wie eine nachhaltige Gesellschaft – von Wohnen bis Ernährung – aussehen könnte.

Im Jahr 2019 wird der Widerspruch in ihr zu groß. Es ist das Jahr, in dem sie für Klimaschutz auf die Straße geht, sich bei Extinction Rebellion und anderen Bewegungen engagiert. Mit Ende Gelände blockiert sie einen Tagebau.

Sie verspürt den Drang, noch mehr zu tun, auch in ihrem Job. „Ich habe mich selbst vor Gericht gezogen, mich immer wieder hinterfragt. Was mache ich da eigentlich?“, sagt Lou. „Wie viel Verantwortung trage ich als Model?“

Immerhin ist sie Teil dieser schmutzigen Mode-Industrie, sie wirbt mit ihrem Gesicht für Produkte, die mit Nachhaltigkeit nichts zu tun haben. Sie kann nicht einfach so weitermachen wie bisher.

II

Früher – in der konservativen Nachbarschaft ihres Heimatorts – sind Lou und ihre Geschwister für die anderen Kinder immer „die Ökos“.

„Meine Eltern haben mitten in einer Neubausiedlung auf dem norddeutschen Lande, zwischen sehr normalen Häusern der Mittelschicht, ein Haus aus Lehm und Holz gebaut.“

Das Dach des Hauses ist begrünt, die Lehmwände sind ungestrichen und braun, das Treppengeländer ist selbstgemacht aus einem im Wald gesammelten Baumstamm. Einen Kühlschrank haben die Schoofs nicht, genauso wenig wie einen Fernseher. Es gibt auch kein gewöhnliches Waschbecken, stattdessen verwendet die Familie eine Schüssel, um Wasser zu sparen.

Für die Nachbarskinder ist dieses Haus genauso Paradies wie schräges Spektakel. Sie kommen gerne zum Spielen, sie lieben die vier Meter lange Schaukel, die vom Dachfirst hängt. Sie bemerken aber auch die andere Kleidung, die Lou trägt und wirken scheu, wenn sie Tofu-Bratlinge serviert bekommen.

Während sich Lou lange so fühlt, als müsse sie entweder ihr Zuhause verstecken oder damit klarkommen, dass andere sie beäugen, sucht sie später den Bruch mit ihrer Öko-Identität.

Sie will sich von ihrer Familie abgrenzen, sie kleidet sich anders, geht auf Partys, entdeckt ihre Leidenschaft für Kunst und Fotografie – bis sie mit 17 an einem freien Nachmittag entscheidet, einer Model-Agentur Fotos von sich zu schicken. Ein jugendlicher Akt der Rebellion.

Ihr Vater fährt sie zum Bewerbungsgespräch.

III

Zwei Wochen nach ihrem Abiball fliegt sie nach New York. Sie bekommt reihenweise Aufträge. Sie sitzt ständig im Flugzeug, trifft aufregende Menschen, schläft wenig, schafft es aber trotzdem irgendwie, bei Foto-Shootings wach auszusehen.

Sie sprüht vor Energie und will am liebsten jeden Job annehmen, der ihr angeboten wird. Sie fühlt sich, als hätte sie eine festgefahrene Vergangenheit hinter sich gelassen. Auch nach Jahren verspürt sie beim Modeln noch eine Lebendigkeit, die sie fast überrascht.

„Wenn ich Mode-Fotografie mache, drücke ich nicht mich selbst über die Kleidung aus“, sagt Lou. „Ich drücke mich der Kleidung entsprechend aus. Ich muss den Charakter verstehen, der über die Kleidung erschaffen wird. Ich passe meinen Ausdruck diesem Charakter an. Das hinzukriegen und ein passendes Bild zu erschaffen, dem Kleidungsstück Raum zu geben und es hervorzuheben, ist herausfordernd und spannend zugleich.“

Im Jahr 2016, nach vier Jahren Karriere, hat Lou genug Geld für ein eigenes Haus. Sie kauft ein Grundstück nahe ihrer Heimat und beginnt, mit Hilfe ihres Vaters, ein Öko-Haus zu bauen.

Sie recherchieren gemeinsam, welche Materialien besonders naturfreundlich sind. Sie verwenden zum Beispiel aus Altglas und aus Zeitungspapier hergestellte Dämmstoffe. Beim Durchkämmen des alten Schuppens auf dem Grundstück finden sie ein ungeschliffenes Stück Holz. Sie funktionieren es um und hängen es als Schaukel an die vier Meter hohe Decke im Wohnzimmer.

Hier im Norden Deutschlands, inmitten der Natur, entsteht für Lou ein Gegenpol zu ihrem hektischen Leben als Model. Als sie 2019 einzieht, beginnt für sie eine neue Phase, sie kommt zur Ruhe, nimmt sich Zeit für sich und ihre Interessen abseits von Mode und Fotografie.

IV

Das WLAN-Signal schafft es kaum durch die massiven Lehmwände. Trotzdem verbringt Lou jede Menge Zeit am Laptop. Der Hausbau hat ein Feuer in ihr entfacht: Sie beginnt, sich immer intensiver mit Themen rund um Nachhaltigkeit zu beschäftigen.

Sie informiert sich, liest Studien, tauscht sich mit anderen Menschen aus. Sie schließt sich Ende Gelände an und blockiert mit Extinction Rebellion eine Straße in Berlin. Und der Graben zwischen ihrer Identität als Klimaaktivistin und ihrer Identität als Model wird immer größer.

Zunehmend konfrontiert sich Lou mit den zahlreichen Abgründen der Industrie, in der sie arbeitet – damit, dass Arbeiter°innen in Bangladesch für einen Hungerlohn Jeans für den Used Look mit giftigen Chemikalien behandeln müssen; damit, dass das Abwasser der Färbereien Flüsse vergiftet; damit, dass Kleidungsstücke mehrmals um die Welt geflogen werden, nur um am Ende ihrer Reise weggeschmissen oder verbrannt zu werden, weil sie im Regal Platz machen müssen für die nächste Kollektion.

Und sie beginnt, sich mit ihrer eigenen Rolle im Geflecht der zerstörerischen Mode-Industrie auseinanderzusetzen. Sie treibt ein großer Wissensdurst. Sie will verstehen, welche Verantwortung sie trägt. Sie fragt sich, was sie tun kann, um effektiv Veränderungen anzustoßen. Welche Wirkmacht hat sie überhaupt in dieser verflochtenen Welt?

Sie will es herausfinden – und trifft eine radikale Entscheidung.

V

Lou will nicht mehr mit Marken zusammenzuarbeiten, die nicht zu 100 Prozent nachhaltig sind. Sätze wie „Der Fotograf ist der Wahnsinn“ oder „Der Job ist wirklich gut bezahlt“ zählen nicht mehr. Sie will ihre eigenen Maßstäbe setzen.

Sie weiß nicht, was auf sie zukommen wird, aber sie weiß, dass es ein gewagter Schritt ist in einer Industrie, die für Nachhaltigkeit weniger Bewusstsein hat als ein Reißverschluss.

Sie treibt ein fast schon akademisches Interesse. Sie spricht von „Experiment“ und „Studie“, sie will wissen: Wird das Vorhaben gelingen? Wird bald niemand mehr mit ihr zusammenarbeiten wollen? Oder wird es einen Punkt geben, an dem sie selbst müde wird und nicht mehr kann?

Vor allem aber möchte sie wissen, ob dieser Weg ihr erlaubt, dem Widerspruch zu entkommen und mit gutem Gewissen bei der Arbeit zu bleiben, die sie so liebt.

Bei jeder Anfrage überprüft Lou, ob die Marke ihren Standards genügt. Sie klopft ein Kriterium nach dem anderen ab: Werden Arbeiter°innen anständig bezahlt? Sind die Materialien nachhaltig oder wird vor allem aus Erdöl hergestelltes Polyester verwendet? Werden giftige Chemikalien zum Färben benutzt?

Viele Unternehmen schicken ihr auf Nachfrage lange Nachhaltigskeitsberichte zu. Sie guckt ganz genau hin, damit sie nicht getäuscht wird, wenn sich Marken hinter halbherzigen Maßnahmen und Greenwashing verstecken. Sie lässt nicht gelten, wenn eine Brand nur einmalig eine Nachhaltigkeits-Kollektion herausbringt und sich sonst nicht bemüht – oder sich damit schmückt, einen Teil ihrer CO₂-Emissionen auszugleichen.

Die meisten Auftraggeber°innen sind unbeeindruckt von ihren Absagen, manche fühlen sich aber vor den Kopf gestoßen. Nachdem Lou einmal einen Job ablehnt, bekommt sie eine wütende E-Mail zurück: Sie wisse doch hoffentlich, dass keine Mode-Marke hundertprozentig nachhaltig sei.

Aber Lou ist konsequent. Fast Fashion fliegt sofort durchs Raster, bei den übrigen Marken scheitert es meistens schon an den Materialien oder Färbe-Methoden. Lou will einen Job nur machen, wenn sie mit ihrem Gesicht für die Marke stehen kann. Wenige Unternehmen schaffen es, alle ihre Kriterien zu erfüllen – doch es gibt sie.

Eine Marke, für die Lou in dieser Zeit modelt, setzt laut Website auf Bio-Baumwolle, die ohne Pestizide angebaut wird und Bäuer°innen mehr Geld bringt. Die Marke achte darauf, dass bei der Färbung nur zertifizierte und unschädliche Mittel verwendet werden. Außerdem recycle sie alte Fair-Fashion-Produkte und stelle einige Produkte im Sinne der Kreislaufwirtschaft her.

📸: Lou informiert auf Instagram über Nachhaltigkeit in der Mode (@louschoof).

Es gebe heute schon Unternehmen, die an solchen Lösungen arbeiten, sagt Lou. Trotzdem sind sie noch selten, auch weil die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft branchenweit passieren muss und nicht von Einzelkämpfer°innen durchgeboxt werden kann. Auch das wird Lou bei den Nachforschungen immer klarer.

Sie stürzt sich tiefer und tiefer in ihre Recherchen. Irgendwann verbringt Lou mehr Zeit damit, zu recherchieren, als auf Shootings zu gehen. Doch die Produktionsbedingungen und Lieferketten sind so verflochten und undurchsichtig, dass es ihr teilweise unmöglich ist, wirklich festzustellen, ob eine Marke nun nachhaltig arbeitet oder nicht. Sie ist zunehmend frustriert. Sie grenzt sich immer wieder aufs Neue selbst aus – von einer Welt, in der es ihr anfangs so viel Spaß gemacht hat, dazuzugehören.

VI

Es fühlt sich für Lou zunehmend so an, als verurteile sie andere. Dabei ging es ihr anfangs nur um ihr eigenes Handeln und den Austausch über nachhaltige Ansätze in der Branche. Indem sie sich von der Mode-Welt ausschließt, erreicht sie ihre Ziele nicht. Hier und da ist sie zwar mit Gleichgesinnten ins Gespräch gekommen, aber tatsächliche Impulse für die großen Veränderungen in der Branche kann sie so nicht setzen. Nach zwei Jahren beendet sie ihr Experiment.

Trotzdem wirkt es nach. Sie liest sich weiterhin die Nachhaltigkeitsberichte von Unternehmen durch und informiert sich über Entwicklungen in ihrer Branche. Sie modelt jedoch wieder für Marken, auch wenn sie weiß, dass sie nicht gänzlich nachhaltig arbeiten. Eine rote Linie zieht sie aber weiterhin, zum Beispiel bei Fast Fashion oder Produkten aus Pelz oder Krokodilhaut.

Bei ihrem Experiment hat sie außerdem viel gelernt über ihren eigenen Handlungsspielraum und über die Wirkung der Werbung. Sie hat verstanden, dass Werbung selbst nicht die richtige Plattform ist, um aufzuklären und Veränderungen herbeizuführen. Diese Traumwelt wird immer Traumwelt bleiben.

VII

Ein Jahr später, 2022. Nach einem Aufenthalt in New York kehrt Lou wieder in ihr Öko-Haus nach Norddeutschland zurück.

Die Nachrichten vom Krieg setzen ihr zu, sie will helfen. Auf einer Online-Plattform stellt sie das Angebot ein, Geflüchteten ein vorübergehendes Heim zu bieten. Zwei Familien melden sich und ziehen bei ihr ein.

Als eine der sechs Ukrainer°innen mit Lou zusammensitzt, im großen Gemeinschaftsraum, wo die Schaukel hängt, stellen die beiden fest, dass sie in derselben Branche arbeiten. Lous neue Mitbewohnerin betreibt ihr eigenes Mode-Label, das nach Circular-Economy-Prinzipien arbeitet und alte Herrenklamotten zu neuer Frauen-Mode upcyclet.

Lou sitzt mit einer Person in ihrem Wohnzimmer, die ihr bis gestern komplett fremd war und doch dieselben Werte teilt. Die an Lösungen arbeitet, wie sie sich Lou für ihre Branche wünscht.

Solche zufälligen Begegnungen sind es, die Lou Freude bereiten, und die sie so wichtig findet. Denn in der Mode-Welt haben sich viele Menschen noch nicht mit Nachhaltigkeit und nötigen Veränderungen auseinandergesetzt, sagt sie. „Es gibt nicht den kollektiven Mut, Überzeugungen zu kommunizieren und nach ihnen zu handeln.“ Deshalb sei es wichtig, sich der Thematik zu öffnen und sich auszutauschen.

Lou hat sich vorgenommen, sich in Zukunft mit Organisationen aus Umweltschutz oder Kunst zusammenzutun und an Kampagnen oder Kunst-Projekten zu arbeiten, die für mehr Bewusstsein in der Branche sorgen sollen. Denn so schafft man es vielleicht gemeinsam, Veränderungen anzustoßen. Sich abzukapseln und die Welt von sich zu weisen, ist für Lou jedenfalls nicht der richtige Weg – selbst wenn das bedeutet, dass sie manchmal auch Widersprüche zulassen muss.

Wie immer vielen Dank fürs Lesen! So wie Lou geht es wahrscheinlich vielen Menschen und Klima-Akteur°innen mehr oder weniger stark: Wie können wir ein nachhaltiges Leben führen und Veränderungen anstoßen, wenn die Welt um uns herum komplett anders tickt? Schreib uns gerne per Mail an hallo@treibhauspost.com, was Du denkst. Wenn Du Mitglied bist, kannst Du diese Ausgabe auch hier unten kommentieren. 

Bis in zwei Wochen!
Manuel

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Kategorie Verantwortung

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