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Harald F. und die Revolte im Herzen

Harald F. ist ein Durchschnittsbürger.
Mit Familie.
Und Reihenhaus.
Gefangen in Ratenkrediten, Versicherungsbeiträgen und den Erwartungen der Nachbarn.
Harald F. war einst ein Banker.
Nun ist er ein Verkäufer im Außendienst.
Für Gurken im Glas.
Seit nunmehr 25 Jahren.
Und seit nunmehr 25 Jahren versucht er sich als Poet.
Wollte stets ein Schriftsteller werden.
War schon immer eine Künstlerseele.
Ein Dichter.
Und ein Denker.
Über das Leben.
Das an ihm vorbeizieht.
Und seine Spuren hinterlässt.
Begleiten wir ihn.
In sein Dasein.
In seine Gedanken.
In seine Träume.
Und in seine Bar.

Das Leben ist ein Gedicht

Nach einem dieser schweren Tage ließ sich Harald F. wieder einmal in die Arme
seiner Lieblingsbar fallen. Dort ging es ihm gut, er hatte seinen Platz, lebte auf,
fühlte sich nicht nur bedient, sondern von der unbeschwerten Atmosphäre umarmt.
Keine Fragen, keine Erwartungen, keine Zwänge.

Und am Tresen wartete bereits ein geduldiger Drink auf ihn.
Auf dem Boden des Glases würde er nun wie so oft nach dem Grund für alles suchen.
Nach einem Sinn, der ihn besänftigen sollte.
Der ihn entlohnen würde für die Mühen, Widrigkeiten und Kleinkriege.
Im Leben gibt es nichts umsonst, das war ihm klar, alles hat seinen Preis.
Und man muss täglich neu entscheiden, wie man für die Gunst des Schicksals
bezahlen will.
Mit Zeit, Gefühlen oder seiner Würde.

Aber man muss weitermachen, darf nicht aufgeben.
Die größte Niete ist das Los, in das man sich fügt.
Harald F. seufzte tief bei dem Gedanken.
Es gab Tage, da hat man nicht nur sein Päckchen zu tragen, man fühlt sich auch ausgeliefert. Doch er wollte das nicht annehmen.
Erst, wenn man am Boden liegt, weiß man, wo man steht.
Aber er, Harald F., hatte auch ganz unten immer noch Träume.

Er wusste, dass er keine Berge versetzen konnte, aber seinen Glauben an einen Aufstieg wollte er nicht verlieren. Er hatte schon von vielem ablassen müssen und dabei eines gelernt: Verworfenes fliegt weiter, als man denkt.
Und manchmal kehrt es zu einem zurück.
Harald F. bestellte sich einen neuen Drink.

Bevor er einen Schluck nahm, schaute er um sich.
Was er sah, kannte er.
Glänzende Gesichter und glühende Träume.
Menschen, die in ihren Seelen laut Dampf abließen.
Abgebrannte, die leise tranken.
Sterne, die für ein Strahlen ihr letztes Licht opferten.
Alle weich gekocht vom Leben.
Am Ende der langen Theke wartete ein Herz darauf, endlich in Flammen aufzugehen. Während der Rauch erloschener Leidenschaft kalte Tränen in die Schminke der Augen trieb.

Harald F. dachte an seine erste Jugendliebe. Was von ihr übrigblieb?
Für ihn war es die Sehnsucht, sich die Spannung des ersten Kusses ein Leben lang zu bewahren.
Er vermochte das leider nicht. 

Die Bar war gut gefüllt.
Mit Paradiesvögeln, Nachteulen und flatterhaften Gestalten.
Alle saßen nebeneinander und starrten auf ihre Smartphones.
Jeder einzelne für sich.
Wir sind so eng vernetzt, dachte Harald F., dass wir Angst haben, uns näherzukommen.

Niemand traut irgendjemanden über den Weg, weil alle auf der Suche sind.
Nach einem eigenen Platz im Leben.
Nach Anerkennung, Wertschätzung und Bewunderung.
Sie wolltn ihrer Einsamkeit eine Bedeutung geben. Wirken. Der Schein bestimmt wie immer das Sein.
Heute heißt das: Ohne Relevanz, keinen Glanz.
Alle anderen werden zur Kulisse. Zu Geistern der Aufmerksamkeit.
Zustimmung erwünscht, Nähe nicht.
Man gewährt Einblick, ohne sich zu öffnen.
Wir überwinden Distanzen, um uns leichter entfernen zu können.

Aber eigentlich lernen wir doch laufen, um aufeinander zuzugehen, Harald F. seufzte.
Doch der Fortschritt fordert seinen Tribut. Wie war das noch? Nichts im Leben ist umsonst.
Fortschritt im Geld heißt Stillstand in den Gefühlen. An das glaubte er.
Wirklich Gehalt hat, wer statt von etwas für etwas lebt, davon war er überzeugt.
Wollte davon überzeugt sein. Überzeugt bleiben.
Was schwer war, denn das Dasein hatte ihn gelehrt, dass Geld alles ändert. Macht kommt nicht von machen, sondern von haben.

Aber das war nicht jedem gegeben – man musste mittlerweile schon ein Hochstapler sein, um etwas auf die hohe Kante zu bekommen.
Früher schützte Arbeit vor Armut, heute vor Reichtum.
Und was Geld offensichtlich abschreckt, ist, es zu benötigen, das war ihm bewusst geworden.
Ebenso, dass sich Geld und Lügen gegenseitig anziehen. Geldschein, Scheingeld; das fand er abstoßend.
Geld ist ein Licht mit dem größten Schatten.
Harald F. schüttelte den Kopf.
Ja, wo Geld ist, öffnet sich vieles. Hände. Höschen. Türen.

Wer Geld hat, fällt weich. Auch das hatte er begriffen.
Gerade als Ex-Banker, als einstiger Handlanger des Systems.
Wie oft hatte er sich damals beim Geld zählen die Frage gestellt:
Warum kommen die Miesen nie in die Miesen?
Und da gab es sogar welche, die aus Unvermögen Kapital schlagen konnten.
Das waren die wahren Meister; Flaschen, die den Preis für ihr Pfand selbst festzulegen wussten.

Man muss überleben. Gut. Dazu war einiges nötig.
Harald F. spielte mit der Münze, die er ständig in einer Hosentasche mit sich trug.
Ja, man muss sich messen in einer Welt, in welcher keiner mehr weiß, was zählt.
Man muss sich wehren in einer Welt, die keinen Platz mehr für Siege hat.
Man muss sich behaupten in einer Welt, in der nur noch Ansprüche das Niveau der Wirklichkeit bestimmen.
Man muss sich Luft verschaffen in einer Welt, die von Verschleierung verpestet ist.
Man muss immer vorne sein in einer Welt, in der niemand mehr hinter einem steht.

Man soll etwas lernen in einer Welt, die keinen Fehler mehr verzeiht.
Man soll alles leicht nehmen in einer Welt, in welcher einem alles schwer gemacht wird.
Und man soll an die Freiheit glauben in einer Welt, die sich durch immer mehr Grenzen definiert.
Harald F. schwieg und winkte dem Barkeeper nach einem weiteren Drink.

Dabei schweifte sein Blick umher.
Er war sich sicher: Die Menschen sind unzufrieden mit dem, was um sie herum passiert.
Sie sagen es nicht laut, nein, denn sie fürchten, man könnte sie beim Namen nennen.
Deshalb tun sie so, als kümmere sie alles nicht.
Aber das war gelogen; hinter den Fassaden, Vorhängen und Masken brodelte es gewaltig.

Man kann nur sein Gesicht wahren, indem man sein wahres Gesicht zeigt, dessen war er sich sicher.
Doch wir verstecken uns heute hinter einem arrangierten Selbstbild, das ist unsere Beteiligung an der Welt.
Und das ist unsere Revolte im Herzen, dachte er und betrachtete sich im Glas, wir schauen nur noch auf uns selbst.

Natürlich, manche raffen sich auf und gehen zu einer Demonstration, wissen aber, dass es nichts bringt. Doch das Gewissen war zumindest für einen Moment lang am Leben.
So ist eben die Zeit: Der Mann auf der Straße ändert nichts mehr, er muss allem aus dem Weg gehen, ansonsten würde er überfahren werden.
Und der Rest ist zu müde, um aufzustehen.

Miete, Ratenzahlungen, Versicherungen, Steuererklärungen, Familienkrach, pausenlose Anrufe von Call-Center-Verkäufern und der ewige Streit mit dem Nachbar saugen einem die Kraft aus den Knochen.
Auch in den Unternehmen läuft es nicht gut – immer weniger müssen immer
mehr machen. Fehler passieren, Kollegen werden krank, Kunden beschweren sich.
Von morgens bis abends.
Ein Sumpf.
Elender Treibsand.

Das Fernsehprogramm tut sein Übriges dazu, es lullt ein, macht schläfrig, bombardiert das Hirn mit Heile-Welt-Geschichten und Werbespots. Dazwischen rennen irgendwelche wilden Leute durchs Bild oder singen, als würde die Welt noch Interpreten brauchen, tja, und wir ergötzen uns
an ihrer Selbstüberschätzung, das musste er zugeben.
Und gestand sich ein: Die größten Narren sind jene, die anderen Narren eine Bühne bauen.

Warum gibt es keinen Aufstand?, fragte er sich.
Eine Menge läuft schief, Harald F. schüttelte mit dem Kopf.
Wir schlafen nicht mehr in unseren Betten, sondern fallen auf der Couch in Ohnmacht, betäuben uns, versuchen, unseren Alpträumen zu entkommen.

Harald F. zündete sich eine Zigarette an und bat um einen neuen Drink.
Wir werden ruhiggestellt, war sein Gedanke.
Die Luft draußen ist nicht mehr frisch, sie ist voller Abgase, die uns die klare Sicht vernebeln. Im Trinkwasser befinden sich Beruhigungsmittel und das Essen sorgt dafür, dass man mutlos wird, es ist so ausgelaugt wie jeder Einzelne von uns.

Man erzählt uns aber, dass es allen besser gehe als je zuvor; dass wir jünger aussähen, vitaler wären und immer älter würden, Harald F. atmete langsam
aus und sah auf die ausgedrückte Zigarette im Aschenbecher.
Nein, wir leben nicht wirklich länger, wir sterben nur langsamer.

Er verließ die Bar, um sich auf die Couch zu legen.
Am nächsten Morgen musste er wieder aufstehen, nicht für eine bessere Welt, nicht, um eine Revolte anzuführen, sondern um das zu tun, was jeder tat.
Sich alles schönzureden.
Tja, sagte Harald F. zu sich und folgte dem silbernen Schimmer des Mondes, das Leben ist ein Gedicht  – jeder reimt sich irgendwas zusammen.

OWS

Teaser-Bild: Mocno Fotografia/unsplash (Öffnet in neuem Fenster)

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