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FIFA und Füchse

Die Meisten werden es bislang nicht mitbekommen haben, aber aktuell findet die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Katar statt. Unter weitgehendem Ausschluss der deutschen Öffentlichkeit kämpfen nicht mehr ganz 32 Teams darum, in den Wikipedia-Artikel „Liste der Fußballweltmeister der Herren“ aufgenommen zu werden.

Aber im Ernst: Eine merkwürdige Weltmeisterschaft, bei der hierzulande mehr über das Drumherum als den Fußball geredet wird. Das erste Mal in meiner Lebenszeit sind wir nicht 80 Millionen Bundestrainer, sondern 80 Millionen Expert:innen in politischer Kommunikation und Diplomatie. Gleichzeitig ist bisher eingetreten, was ich nicht für möglich gehalten hätte: Das messbare Interesse am Sportlichen ist drastisch eingebrochen, die Einschaltquoten bei miteinander vergleichbaren Anstoßzeiten sind um oft mehr als 50% verringert. Es wird dafür nicht den einen Grund geben, es kommt viel zusammen: Eine wenig inspirierende Mannschaft, der Winter, das Ausrichterland, die sich immer absurder gebärende FIFA. Alles zusammen führt bislang ganz offenbar dazu, dass sich in Deutschland viele Leute vom organisierten Weltfußball abgewendet haben.

In anderen Ländern ist das nicht so, im Gegenteil: Teilweise sind die Einschaltquoten höher als je zuvor, und das nicht nur im Nahen Osten oder in Kanada, sondern auch in Europa (Öffnet in neuem Fenster). Warum ist das so? Je nachdem, wo man so politisch guckt, werden die Antworten unterschiedlich ausfallen, mit größeren Differenzen in der Komplexität der Ansätze. Dass „Wokeism“ typisch deutsch sei, überzeugt natürlich nicht, weil das ja immer das Schreckgespenst aus den USA ist, wo unser Fußball aber eher eine migrantische und linksliberale Angelegenheit ist. Dass es der deutsche Wunsch ist, dass an unserem Wesen die Welt genesen solle, ist nicht beweiskräftig zu widerlegen, dafür ist der Vorwurf viel zu gefühlig.

Tatsächlich glaube ich, dass es an zwei entgegengesetzten Vorerfahrungen liegt: Zum einen gibt es das deutsche „Sommermärchen“ (die Anführungszeichen können nicht groß genug sein), das – wir wissen es heute – ebenso wie Katar auf Korruption und Bestechung fußt. Dass das Turnier nun irgendwo noch offensichtlicher korrupt ist, entlastet natürlich das Sommermärchen von seinem mühsam ignorierten Fundament.

Zum anderen haben wir als Kombination aus der Bundesrepublik Deutschland und dem Deutschen Fußball-Bund den Tiefpunkt unserer Verbindung aus Sport und Politik schon hinter uns. Die Erkenntnis ist dem Verband nicht selbst gekommen, sie musste von außen hereingetragen werden, aber so etwas wie die deutsche WM in Argentinien 1978 durfte und darf der Nationalmannschaft nicht noch einmal passieren.

Wie auch im Fall Katar wurde die Weltmeisterschaft dem Ausrichterland Argentinien mit einem langen Vorlauf von zwölf Jahren zugesprochen, übrigens gleichzeitig mit dem BRD-Turnier 1974, am 6. Juli 1966. Genau eine Woche zuvor hatte das argentinische Militär gegen den gewählten Präsidenten Arturo Illia geputscht, ihn abgesetzt und den General Juan Carlos Onganía eingesetzt. Seiner glücklosen vierjährigen Amtszeit folgte eine Phase von innerer Instabilität und Reformen, und zehn Jahre nach der Vergabe der WM ans Land übernahm das Militär wieder die Kontrolle und errichtete ein System von staatlichem Terror gegen alles, was man für revolutionär, sozialistisch oder links hielt – oder wie der General Menéndez es ausdrückte:

„Wir werden 50.000 Menschen umbringen müssen: 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten, und wir werden 5.000 Fehler begehen.“

Was in Argentinien passierte, war auch von Mitteleuropa aus nicht zu übersehen. Ein Jahr vor der WM wurde die deutsche Revolutionärin Elisabeth Käsemann verhaftet, gefoltert und nach zwei Monaten, kurz nach ihrem 30. Geburtstag, hingerichtet, nachdem ihre Familie mehrfach erfolglos bei der Bundesregierung von Helmut Schmidt um diplomatische Bemühungen gebeten hatte. Noch ein Jahr zuvor war der deutsch-argentinische Maschinenbaustudent Klaus Zieschank, mit Kabelbindern an einen anderen Körper gefesselt, vermutlich von Militärs aus einem Flugzeug ins Meer geworfen, die Leichen später am Ufer entdeckt. Auch die über 300 Geheimgefängnisse der Junta waren gesichertes Wissen, die Debatte darüber, wie man sich zu einem Land verhält, das sich so verhält, beschäftige die Medien Wochen vor dem Auftaktspiel.

Stellvertretend sei dazu der lange Artikel von Walter Jens in der ZEIT (Öffnet in neuem Fenster)empfohlen, der die Debatte in zeittypischer Feuilletonsprache zusammenfasst und letztlich in wenige wichtige Punkte bündelt über das Land, „in dem, handgreiflicher als 1936, das Stadion neben dem Konzentrationslager (beziehungsweise dessen über das Land verteilten Baracken, Kellern und Gelassen) liegt“.

Große Teile der Mannschaft, Bundestrainer und vor allem DFB-Präsident waren nicht so abwägend. Die anderen angereisten Mannschaften kamen in Hotels unter und fuhren zu nahen Sportplätzen zum Training, der DFB residierte in einem zum Erholungsaufenthalt umgebauten Anwesen der argentinischen Luftwaffe: Draußen patrouillierte das Militär der Diktatur, drinnen wachte die GSG9.

Und vor den Mikrofonen der durchaus an den Widersprüchlichkeiten zwischen Sport und Terrorstaat interessierten Medien fanden die meisten Spieler nichts problematisch daran, wo sie da gerade trainierten: Bundestrainer Helmut Schön, von dem es heute heißt er habe den alten autoritären Geist aus dem DFB vertrieben, versicherte, er habe „nichts gesehen, von dem man sagen könnte, es handle sich um eine ausgesprochene Diktatur.“ Der langjährige Rekordtorschütze von Hertha BSC, Erich Beer, begründete seine Unbekümmertheit damit, dass er doch ganz diskriminierungsfrei ignorant gegenüber allen sei, er „habe ja auch kein schlechtes Gewissen, für 200 Mark zu essen, und in Indien hungern welche.“ Bananenflankengott Manni Kaltz hingegen setzte Prioritäten: „Ich fahr da hin, um Fußball zu spielen, nichts sonst. Belasten tut mich das nicht, dass dort gefoltert wird. Ich habe andere Probleme.“

Interessant war insbesondere, was Berti Vogts zu sagen hatte, der kleine Mann mit leiser Stimme, den meine Generation nur als den zurückhaltenden Verwalter der Fußballgeneration nach 1990 kannte:

„Amnesty International sollte lieber mal in den „Stern“ schauen, was da über russische Lager drin steht“

und später, nach Ende des Turniers:

„Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“

Schon vor dem Turnier hatte Vogts sich zur Möglichkeit eines Boykotts geäußert, den u.a. französische Intellektuelle gefordert hatten, und dabei unfreiwillig korrekt in die Zukunft geblickt: Wenn man jetzt Argentinien boykottiere, dann müsse man das doch auch mit dem Olympischen Spielen 1980 in Moskau machen, und das habe ja auch niemand vor? Bekanntermaßen boykottierten schließlich 42 Länder die dortigen Spiele zwei Jahre später, das konnte Vogts natürlich nicht ahnen.

Nun wäre schon diese demonstrative Ignoranz einer Nationalmannschaft 33 Jahre nach dem Untergang des eigenen Terrorstaates nicht gut zu Gesicht gestanden, es reichte aber offenbar nicht aus, einfach nur indifferent zu sein: Während die Ehefrauen der Spieler während des Turniers nicht zu Besuch kommen durften, kam ein Stargast ungehindert durch die Einlasskontrollen: Hans-Ulrich Rudel.

In den heutigen Artikeln zu 1978 steht meistens als markantestes Kennzeichen, dass Rudel der einzige Träger des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes mit goldenem Eichenlaub, Schwertern und Brillanten sei, verliehen von Hitler persönlich. Das allein wäre aber nur Grund für Befremden über die Einladung gewesen. Tatsächlich war Rudel aber auch 1978 noch eine zentrale Schaltstelle des globalen Nationalsozialismus. Einer dieser Nazis, wegen denen man das Wort „Neonazi“ erfinden musste, um die neuen von den alten abzugrenzen. Einer, der auch in den 1970er Jahren noch daran arbeitete, irgendwo auf der Welt wieder eine NS-Diktatur aufzubauen, wenn nicht in Deutschland, dann halt in Südamerika oder wo auch immer sich die Gelegenheit bot.

Rudel war nach kurzem Aufenthalt in Nachkriegsdeutschland mit gefälschten Papieren nach Argentinien geflohen und hatte dort mit seinem – für seine Gesinnungsgenossen – guten Namen eine Art Hilfswerk aufgebaut, das über die „Rattenlinie“ ausgewanderte NS-Täter finanziell, ideell und integrativ unterstützte und zudem in Europa Inhaftierten beistand. Gleichzeitig publizierte Rudel in „Der Weg – El Sendero“, der ersten deutschsprachigen und in Europa beziehbaren Zeitschrift, die grundsätzlich und offen den Holocaust leugnete. In der Bundesrepublik war Rudel immer wieder auch offiziell politisch tätig als Kandidat für die Deutsche Reichspartei, als Mitglied der Sozialistischen Reichspartei bis diese verboten wurde, und als Vortragsredner für die DVU.

Zwei Jahre vor der WM musste auch den letzten Entnazifizierungsschwänzern klar sein, wer Rudel war und was sein Name in der Bundesrepublik noch wert war: Bei einem Ehemaligentreffen der Luftwaffe in Bremgarten war Rudel geladener Gast, genehmigt vom Staatssekretär des SPD-geführten Verteidigungsministeriums. Als hinterher Journalisten gegenüber den zwei mit dem Vorgang betrauten Generälen Kritik darüber äußerten, entgegneten diese, der SPD-Fraktionsvorsitzende Wehner sei schließlich auch früher KPD-Mitglied gewesen, man solle jedem die Möglichkeit lassen, sich politisch zu läutern. Allein: Rudel war, im Gegensatz zu Wehner (und wir lassen die Gleichsetzung von KPD und NSDAP hier platzweise außen vor), nie vom NS-Gedankengut abgerückt, im Gegenteil, er hatte sich erst nach dem verlorenen Krieg ausdrücklich politisch engagiert.

Am Beispiel Rudel wurde erstmals prominent das Traditionsproblem der Bundeswehr durchdiskutiert, inklusive einer hochkontroversen Debatte im Bundestag, in der CDU und CSU die „soldatischen Errungenschaften“ Rudels hervorhoben, die vorbildlich seien, seine politischen „Irrungen“ hingegen wären zu verurteilen und nicht Teil des Ehemaligentreffens gewesen. Der Verteidigungsminister schloss die Debatte damals kategorisch:

„Und nun sage ich Ihnen etwas zur Tradition: Dieser Herr Rudel kann so viele Panzer abgeschossen haben, wie er will; als Demokraten ist er für uns ein untaugliches Lehrstück.“

Beide Generäle sowie der Parlamentarische Staatssekretär verloren über diese Angelegenheit ihre Posten; dem DFB war vollkommen klar, wen er sich da aufs Gelände eingeladen hatte, man positionierte sich damit aktiv politisch irgendwo zwischen CDU, CSU und nach Südamerika geflohenen Altnazis. Die Legende, dass sich der Deutsche Fußball-Bund 1978 von der Politik ferngehalten hätte, als habe er sich in eine Neutralität und Konfliktvermeidung geflüchtet, ist grundfalsch: Er hatte sich positioniert, zugunsten von Diktatur, Terror und Menschenverfolgung, gegen Freiheit, Menschenrechte und Demokratie.

Einige Spieler, auch Vogts, sind Jahre später zurückgerudert, als ihnen das ganze Ausmaß der argentinischen Katastrophe klar wurde. DFB-Präsident Hermann Neuberger hat es nicht geschadet: Er blieb bis 1992, kurz vor seinem Tod, im Amt. Der DFB mauert bis heute: In der offiziellen Verbandshistorie (Öffnet in neuem Fenster) wird die „Rudel-Affäre“ nicht ausgespart, sondern offensiv angegangen: die argentinischen Wachtruppen hätten Rudel eingelassen, Neuberger nichts davon gewusst und auch keine Einladung ausgesprochen – die junta-freundlichen Aussagen zum Turnier seien „diplomatisch“ gewesen, Neuberger damit überfordert gewesen. Als Kronzeugenquelle wird ein Brief Neubergers selbst an den Zentralrat der Juden angeführt, in dem er jegliche Verantwortung von sich weist. Wie überraschend.

Wer also 2022 fordert, dass der DFB sich im Gastgeberland politisch neutral verhalten solle, der ignoriert die Geschichte des DFB als Verband innerhalb der deutschen Demokratie und dessen politischen Tiefpunkt. Auch aus 1978 ergibt sich Verantwortung für Menschenrechte, nicht nur aus 1933-1945.

Rudel wurde übrigens noch zweimal relevant: Einmal lebend, 1981, als er an der Beerdigung des Hitler-Nachfolgers Karl Dönitz teilnahm und vor der Kirche in Aumühle begeisterten Anhängern Autogramme gab (Öffnet in neuem Fenster), bevor zur Beisetzung die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen wurde. Und, kurz vor Weihnachten 1982, als bei seiner eigenen Beerdigung unweit von Nürnberg Kampfflugzeuge der Luftwaffe im Tiefstflug über den Ort flogen. Die Bundeswehr behauptete später, es habe sich um übliche, weit entfernte Übungsflüge gehandelt, weit weg von der Trauerfeier. Die 2000 Anwesenden, von Alt- bis Neonazis, seien optischen Täuschungen erlegen. Konsequenzen hatte die Angelegenheit nur für die vier von vielen Trauergästen, die am Grab den Hitlergruß gezeigt hatten und dabei auf Pressefotos identifizierbar waren. Vom DFB wird vermutlich niemand dabei gewesen sein.

Ich hatte in den vergangenen Wochen mit einer schweren Form von Schreibblockade zu tun. Ich verspreche, jetzt wieder die Regelmäßigkeiten einzuhalten.

Was sonst noch war:

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