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Quittenmarmelade

Über ein Gedicht von Jürgen Becker und den Geschmack von Buttermilch, über eine Kindheit im Krieg, verschüttete Erinnerungen und Stimmen aus einem Güterwaggon

Seit ein paar Wochen geht mir ein Gedicht von Jürgen Becker durch den Kopf. Es steht in seinem letzten Buch „Nachspielzeit“, das im vorigen Sommer erschienen ist, wenige Monate vor seinem Tod. Es sind nur acht Zeilen, zwei Strophen; einen Titel hat es nicht.

„Die Nachbarin ruft an, sie will mir / ein paar Waffeln bringen, fünf Minuten später / steht sie vor der Tür, und ich bedanke mich mit / einem Gläschen Quittenmarmelade, von meiner Frau noch // im vorigen Sommer. Ihre Frau fehlt mir, / sagt die Nachbarin, und dann tut sie, was / meine Frau tat mit Besen, Rechen, Heckenschere, / und im Vorgarten siehts aus wie im Sommer zuvor.“

Ich weiß gar nicht, was mich an diesen Zeilen am meisten berührt. Der Satz der Nachbarin, die offenbar das Herz am rechten Fleck hat; ihre so zugewandte wie zupackende Art. Die Trauer, die unausgesprochen bleibt und doch deutlich zu spüren ist. Oder das kleine Glas, das mehr enthält, als das vermutlich handgeschriebene Etikett verspricht – nicht nur Quittenmarmelade, sondern die Erinnerung an den letzten Sommer, als die Welt (und mit ihr die Hecke) noch in Ordnung war.

Oder aber ist es das Gedicht selbst, das, so kunstlos es sich gibt, etwas von einem Tagebucheintrag hat. Als habe der Schreiber nur rasch festhalten wollen, was er gehört und gesehen, was er erlebt hat.

Viele Worte um nichts, heißt es, wenn einer redet und redet, ohne etwas zu sagen. Wenn er leeres Stroh drischt, wie die Redewendung lautet. Jürgen Becker macht nicht viele Worte; die wenigen Zeilen, aus denen sein Gedicht besteht, enthalten das Wesentliche.

So wie der Satz der Nachbarin. Man glaubt, sie vor sich zu sehen, wie sie an der Tür steht: in der Hand das Glas Quittenmarmelade, das sie gerade geschenkt bekommen hat. Wie sie es eine Weile betrachtet, kaum merklich nickt und dann ihrem Gegenüber in die Augen sieht.

„Ihre Frau fehlt mir.“

Vier Wörter nur, aber mehr braucht es nicht, um dem Mann, dem im letzten Jahr die Frau gestorben ist, zu zeigen, daß sie ihn und seinen Schmerz sieht.

Als Jürgen Becker im November starb, fiel mir ein, daß sein letzter Brief noch auf meinem Schreibtisch lag. Es war keiner dieser Briefe, auf die man gleich reagieren muß, weil eine Frage offen oder etwas rasch zu klären ist; und so hatte ich ihn erst mal beiseite gelegt. Aber vor ein paar Wochen war er mir wieder in die Hände gefallen, und ich hatte mir vorgenommen, ihn bald zu beantworten. Jetzt war es zu spät.

Als ich ihn nun heraussuchte, stieß ich noch auf einen zweiten Brief in der vertrauten Handschrift. Er war schon etwas älter, am Ende der Seite stand als Datum der 14. November 2021. Es war der Brief, den mir Jürgen Becker nach dem Tod seiner Frau geschickt hatte.

Viel zu spät hatte ich davon erfahren. Aber dann hatte ich mich sofort hingesetzt, um ihm zu schreiben. Auch eine Fotografie legte ich bei, auf der sie beide zu sehen waren. Am Tag nach einer Lesung an einem weltentrückten Ort in den Alpen saßen sie auf einer Bank, ins Gespräch vertieft: er und seine Frau, die Künstlerin Rango Bohne.

Es war ein Sommerabend, und ich weiß noch, daß Jürgen Becker von einem Wanderweg erzählte, den sie an diesem Tag gegangen waren und den er auch uns empfahl. Am Ende sei da eine Hütte, da könne man eine Buttermilch trinken.

Zwölf Jahre war das her.

Die Antwort aus Köln kam nach nicht einmal zwei Wochen. Er bedankte sich für meinen Brief. Das Foto, das ich ihm geschickt habe, schrieb er, erzähle von glücklichen Tagen.

Was für Tage es waren, die er jetzt durchlebte, schrieb er nicht. Aber ein Satz ließ ahnen, wie ihm zumute war: „Meinerseits tröstet mich das Alter und daß ich keine Ewigkeit mehr damit verbringen muß, nun auch das Alleinesein noch zu lernen.“

Warum mir die Buttermilch im Gedächtnis geblieben ist? Es muß an diesem Satz liegen: „Indem der Junge den Becher langsam leertrinkt, nimmt er für alle Zukunft den säuerlichen Geschmack auf, der ihn während der langen Jahrzehnte, als ihm diese Landschaft verloren, wie weggenommen vorkam, an die Küstenwälder der Ostsee erinnert.“

Es ist eines der Bilder, die man nicht vergißt, wenn man die Bücher von Jürgen Becker liest. Der Geschmack der Buttermilch, die verdunkelten Fenster, das Rauschen des Radios, die Flugzeuge am Himmel. Es sind die Koordinaten einer Kriegskindheit, auf die er immer wieder zu sprechen kommt: jahrzehntelang in Gedichten, 1997 das erste Mal in einer Erzählung.

Zwei Jahre darauf folgte der autobiographische Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“, in dem er von dem Kind erzählt, das 1932 in Köln geboren wurde und mit sieben Jahren nach Erfurt zog – wenige Tage, bevor der Krieg begann. Ein Tauchgang in der Erinnerung von geradezu Proust­scher Akribie.

Als ich auf diese Bücher stieß, konnte ich nicht aufhören zu lesen. Wie das Kind die Nazizeit und den Krieg erlebte, die Bedrohung wahrnahm, aber auch eine Verführung spürte, vor der es viele Jahre später erschrecken sollte – das ging mich etwas an. Oft hatte ich mich gefragt: Wer wärst du gewesen, wärst du in dieser Zeit aufgewachsen? Wenn man Jürgen Becker las, bekam man davon immerhin eine Ahnung.

Ein anderes Bild, das mich verfolgt wie eine eigene Erinnerung, ist das des Güterzugs, der dem Jungen an einem heißen Sommernachmittag in einem thüringischen Provinzbahnhof auffällt. Kein besonders bemerkenswerter Anblick, wäre da nicht „ein leises Rumoren“ aus einem der Waggons, gefolgt von Stimmen, die nach Wasser rufen.

Verstört alarmiert der Junge einen Bahnbeamten, aber der wiegelt ab. Das sei doch bloß ein Viehtransport! Ob er etwa glaube, die Rindviecher würden nach Wasser rufen? Er solle sich mal die Ohren waschen! Das Kind, durch die spöttische Bemerkung verunsichert, sagt nichts mehr – auch zu den Eltern nicht, die nebenan in einer Gaststätte sitzen.

Dieses Erlebnis auf dem Bahnhof von Neudietendorf, erzählte mir Jürgen Becker einmal, sei ihm erst Jahrzehnte später wieder in den Sinn gekommen. So wie viele Erlebnisse seiner Kindheit, die in seinem Kopf „wie verschüttet und vergessen“ lagen.

Ich war nach Köln gefahren: ein halbes Jahr nach jenem Sommerabend in den Alpen. In den Tagen zuvor hatte ich noch einmal alles von ihm gelesen, jedes Gedicht und jede Erzählung, und mir Fragen notiert. Nach der Buttermilch wollte ich ihn fragen und nach dem Güterzug.

Es wurde ein langes Gespräch, das später in „Sinn und Form“ erschien. Als ich es neulich wiederlas, hörte ich Jürgen Beckers Stimme, wie sie langsam, manchmal stockend, dann wieder hastig, als hätte ein Knoten sich gelöst, die Sätze entwickelte, die dann so selbstverständlich auf dem Papier standen.

Ja, sagte er, diese Beobachtung des Kindes verstöre ihn bis heute. Sie halte ihm seine Unwissenheit vor Augen, seine naive Art von Wahrnehmung. Sie sage ihm: Was du alles gesehen hast; du hast nicht gewußt, vielleicht sogar nicht wissen wollen.

Eine Weile blickte er stumm vor sich hin. Ich sah, wie es hinter seinen Stirnfalten arbeitete. Es war, als würde er den Jungen sehen, der er gewesen war an diesem fernen Sommertag: wie er auf dem Bahnsteig stand und dem langsam wieder anrollenden Güterzug nachsah.

Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Das Kind wußte es nicht, obschon“, er stockte erneut, „es kommt mir gespensterhaft vor – über aller Unwissenheit immer ein Schatten von Ahnung lag, von Angst auch, daß einen irgendwann der Schock trifft: Es stimmt alles nicht, es ist alles ganz anders.“

Im Buch folgt auf die Schilderung der Bahnhofsszene noch eine Überlegung grundsätzlicher Art: „Lange Zeit brauchte ich, bis ich anfing, meinen Wahrnehmungen nicht immer zu mißtrauen, aber manchmal kommt es noch vor, daß ich wieder ganz unsicher bin und nicht weiß, kann ich mir selber denn glauben.“

So, erklärte mir Jürgen Becker an dem Tag in Köln, gehe es ihm auch mit manchen Erinnerungen. Mitunter zweifle er an ihrer Zuverlässigkeit. Manchmal bemerke er, daß er sich an etwas erinnere, das er gar nicht selbst erlebt habe, sondern das ihm erzählt worden sei. Vorgänge, die er vielleicht von Fotografien oder aus Filmen kenne.

Im nächsten Augenblick sah er mich an. Er schien zu ahnen, was ich ihn gleich fragen würde. Nein, sagte er, die Stimmen aus dem Waggon, die habe er gehört. Da gebe es keinen Zweifel.

Eine Weile blickte er schweigend zu Boden. Die, sagte er, höre er immer noch.

Die Buttermilch, deren Geschmack ihn an die Kindheitslandschaft an der Ostsee erinnert: Ich hatte an Proust denken müssen und an das in einem Löffel Lindenblütentee aufgelöste Stück Madeleine, das dem Erzähler der „Recherche“ die längst versunkene Welt der Kindheit wieder vor Augen führt.

Ja, sagte Jürgen Becker. „Die Impulse, die von sinnlichen Wahrnehmungen ausgehen: von Geschmack, Gerüchen, Geräuschen, die setzen unser Erinnern in Gang.“ Das sei beim Schreiben sicher entscheidend.

Merkwürdig, denke ich jetzt und dachte ich neulich, als mir das Wort Buttermilch begegnete – und ich sofort eine Erinnerung im Kopf hatte, die nicht die meine war. Als könnte man sich an einer fremden Erinnerung anstecken: so wie man von einer ansteckenden Fröhlichkeit oder einem ansteckenden Lachen spricht.

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Buttermilch getrunken habe. Ja, damals in den Alpen, nachdem wir den von Jürgen Becker empfohlenen Wanderweg gegangen waren, bestellte ich tatsächlich ein Glas. Aber sonst?

Und doch: Wenn ich das Wort höre, habe ich sofort den säuerlichen Geschmack auf der Zunge. Und mir fällt der Junge ein, der, wie es an anderer Stelle heißt, „am Rand eines Kiefernwaldes, hinter dem gleich der Strand begann“, den Becher langsam leertrinkt.

Ob es mir, frage ich mich, mit der Quittenmarmelade auch so gehen wird? Werde ich in ein paar Jahren noch an das Gedicht denken, wenn ich beim Frühstück den Löffel in das Marmeladenglas tauche?

Schwer zu sagen. Es ist noch nicht lange her, daß ich Jürgen Beckers letztes Buch gelesen habe. Der Eindruck ist noch frisch. Die „Nachspielzeit“, an die er dachte, als es vier Monate vor seinem Tod erschien, mag zu Ende sein. Aber das Nachleben des über die Jahre von ihm Geschriebenen hat erst angefangen.

Doch schon jetzt merke ich, wie sich in meinem Kopf all das eingenistet hat, wovon das Gedicht erzählt. Der alte Mann, der allein und etwas wehmütig in der Haustür steht. Der Satz der Nachbarin, die sagt, was zu sagen ist. Die verwilderte Hecke, der sie beherzt zu Leibe rückt.

Vor allem aber das kleine Glas Marmelade, dessen Erwähnung genügt, daß die Quitten an diesem Wintertag so gelb zu mir herüberleuchten, als wäre es schon Sommer.

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