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Pop als Politikum

Kann Popmusik im 21. Jh. noch politisch sein?

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Wenn ich darüber nachdenke welche Musik ich als politische Musik bezeichnen würde, würde ich wohl solche Sachen wie Punk, Pussy Riot, Lieder für Demonstrationen, Woodstock, auf Schärfste zu verachtende Nazi-Musik und Post-Punk nennen. Hm, es fällt mir also nicht viel ein. Und Popmusik? Naja, vielleicht damals im letzten Jahrhundert als Michael Jackson "They don't care about us" sang oder Madonna mit "Papa don't preach" ungewollte Schwangerschaften und Sex vor der Ehe thematisierte. Oder erst Jazz, dann Rock'n'Roll, Techno und schließlich Hip Hop die Welt eroberten. Aber heute? Bin ich nur zu abgebrüht? Oder gibt es wirklich kaum noch Skandale in der (Pop-)Musik?

ESC 2021 (Öffnet in neuem Fenster)

Neulich war endlich wieder Eurovision Song Contest nachdem es letztes Jahr ausfiel. Die Fußball-EM der Popmusik. Im Vorfeld habe ich mich kaum informiert, denn es gab spannenderes im Weltgeschehen zu verfolgen. Dennoch verschaffe ich mir jedes Jahr gerne einen kleinen Überblick wer auf welchem Platz und mit welchem Beitrag gelandet ist.

Es gab viel Disko, viel inhaltlich nicht sehr anspruchvolles aber nettes und dann gab es wiederum sehr beeindruckende und unerwartete Beiträge, die wichtige Themen aus dem Social Media Mainstream thematisierten, wie z.b. von den Niederlanden (Öffnet in neuem Fenster) oder Frankreich (Öffnet in neuem Fenster). Und dann, dann kam der russische Beitrag. Inklusive Gänsehautmoment als beim Live Finale mitten im Song plötzlich viele, offenkundig sehr verschiedene, Russinnen auf der rieseigen Videoleinwand im Schriftzug "Russian Woman" live mit Manizha den Refrain mitsingen.

Wow, was für ein Statement!

Sehr ungewöhnlich für Russland. Und zugleich ein kluger Schachzug als Repräsentatin gegen die vorherschenden erz-konservativen Frauenbilder, für moderne Frauenrechte, Respekt und Vielfalt vor die Welt zu treten. So, als wäre sie Politikerin.

https://www.youtube.com/watch?v=V-Di9A28e5E (Öffnet in neuem Fenster)

Die Vorgeschichte 

Kurz nach den Maidan Protesten und dem Beginn der Krimkrise gewann die Musikerin Jamala 2016 den Eurovision Song Contest mit einer herrausragenden musikalischen Leistung. Gleich darauf empörten sich Stimmen aus Russland der ESC sei politisch und würde sich im Konflikt Russland-Ukraine einseitig positionieren. Ganz so einfach ist dem nicht: Grundlegend ist der ESC ein Liederwettbewerb auf internationaler/europäischer Ebene mit der Intension zum friedlichen Miteinander beizutragen so wie es der Fußball tut. Statt auf dem Schlachtfeld, sollen sich die Länder auf den Fußballfeld bzw. der Bühne messen. Jamalas Lied ist ein historisches sehr persönliches Lied in dem es um die Repression in der Sowjetunion geht. Dass Russland selbst immernoch nostalgisch verklärt mit seiner sowjetischen Vergangenheit liebäugelt...Naja... Genau genommen also, kein(!) direkter Bezug auf das jetzige Russland. Erst im Jubeltaumel über den ESC-Sieg politisierte Jamala ihren Auftritt um auf die Situation auf der Krim, im Donbass und im speziellen für die Krim-Tartaren, aufmerksam zu machen.

In den darrauffolgenden Jahren waren die russischen Beiträge musikalisch und inhaltlich eher weniger anspruchsvoll oder sie machten 2017 freiwillig gar nicht erst mit.

Manizha (Öffnet in neuem Fenster)

Dieses Jahr durfte das russische Puplikum nach 9 Jahren erstmals wieder ihre*n ESC-Vertreter*in wählen. Doch gleich darauf versuchten konservativ patriotische Stimmen, teilweise sogar aus der Duma, die weitere Teilnahme zu verhindern indem sie den Text auf als "illegalen" und "Russland entwürdigend" zu diskreditieren versuchten. Allein diese Annahme ist schon eine Empörung wert. Denn welcher Musiktext sollte schon so krass sein dass er illegal sei?

Dies ist nur mit Vorurteilen erklärbar > Unter anderem: Fremdenfeindlichkeit - Manizha könne als gebürtige Tadschikin Russland nicht vertreten. Und Frauenfeindlichkeit - Die Orthodoxe Kirche warf ihr vor männerfeindlich zu sein und das Bild einer "guten russischen Frau" zu verklären. Alles exakt die Themen für die Manizha sich engagiert. Gegen Fremdenfeinlichkeit, Gegen Gewalt an Frauen und für eine toleranteres Russland. Seit letztem Dezember sogar als UNHCR-Botschafterin. (unhcr.org/manizah.html)

Hierzu sei zusätzlich auch auf die Geschichte Tadschikistans (Öffnet in neuem Fenster) hingewiesen!

Und die Kurzbiographie Manizhas (Öffnet in neuem Fenster).

Link zur knappen Zusammenfassung des Problems: Über das ambivalente Verhältnis Russlands zu seinen Frauen in Kurzfassung von Kristina Ritter (Öffnet in neuem Fenster) (Stand:2019)

Übrigens: Die fast schon übermäßig kitschige Südkoreanische Popmusik ist einen sehr beliebte Schmuggelware bei Nordkoreanischen Jugendlichen. Wofür man dort sehr lange in Haft kommen kann, bis hin zur Todesstrafe.

ЯIAM (я=ich, I am=ich bin) -  Das Album und weitere Songs (Auswahl) (Öffnet in neuem Fenster)

Veröffentlicht 2018. In den Musikvideos ist deutlich zu erkenne wie Manizha mit den großen Bildern der Künste spielt. Für jede*n leicht verständlich. Bei diesem Album geht es durchweg um Identität und die Themen für die sie sich einsetzt und  die auch mit ihr zu tun haben.

https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_lAYrwmtIexJrJNiKILHe6TqrpfAnYeTPQ (Öffnet in neuem Fenster)

Mama

(Triggerwarnung!) Ein sehr eindeutiges Lied gegen die Häusliche Gewalt an Frauen und Kinder in Russland. "Lass dein Licht leuchten! Deine Mutter hat dich nicht dazu erzogen still zu sein." heißt es unter anderem in dem Liedtext. Dazu muss man ein wichtiges Detail wissen: Seit 2017 ist es in Russland wieder(!) vollkommen legal seine Ehefrau oder Partnerin zu "züchtigen". Damit ist die gesamte Bandbreite häuslicher Gewalt gemeint. Am Ende des Musikvideos ab Minute 4:40 kann man die nackten Fakten nachlesen. "тысяч" hinter den Zahlen heißt Tausend: In Russland "halten jeden Tag 36.000 Frauen die Schläge ihrer Männer aus. Jedes Jahr sterben zwischen 12.000-14.000  Frauen durch häusliche Gewalt. Alle 40 Minuten stirbt eine Frau." Zum Vergleich: in Deutschland stirbt alle drei Tage eine Frau an Femizid.

https://www.youtube.com/watch?v=iCwuW3yClO4 (Öffnet in neuem Fenster)

Город Солнца - Sonnenstadt (nicht Teil des Albums, trotzdem wichtig)

Ein persönliches Lied darüber wie Flucht ist. Ein Lied gegen Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile.

Was nimmt man mit? Aus Kindersicht erlebt man es ggf. als ein großes Abenteuer. Auf dem Weg scheint die Sonne. Doch sie lächelt nur zum Schein. Was wird aus der Heimat, den Liebsten? Was wird jetzt zur Heimat? Am Ende spricht sie diesmal eine simple Bitte an alle Menschen aus: "Acht Millionen Menschen sind gezwungen ihr Zuhause zu verlassen aufgrund von Gewalt und Krieg. Was ihre zukünftigen Erinnerungen sein werden hängt nicht nur von ihnen selbst ab, sondern auch von uns. 

Bitte, lasst uns alle freundlicher zueinander sein!"

https://www.youtube.com/watch?v=Emcn2tJX6bw (Öffnet in neuem Fenster)

Isymrud - Smaragd

Mein Lieblingslied. Das Lied beginnt, frei übersetzt, "Halt Inne! - Hör auf vor dir selbst wegzurennen! - Du bist das Wasser -  Du bist der Wind - Öffne die Augen!", mit einem Goethe Zitat: "Zwei Seelen wohnen, Ach!, in meiner Brust..."  Und der Refrain in revolutionistischer Manier performt: "/: Berge, Berge! :/ Wo wartet die Treue? Wo sind Lüge und Schmerz abwesend? Berge, Berge, hört mich rufen! - Zeige mir den Weg und ich werde die unaufhörliche Reise machen, werde Schuld und Zweifel hinter mir lassen und werde meine Tage in Frieden leben." Wer wohl die Berge sind? Die Heimat? Wenn ja, welche? Oder stehen sie doch eher als Synonym für eine bestimmte, starre Personengruppe?

(Die Werbung für das Mineralwasser und die Schuhmarke darf gerne ignoriert werden.)

https://www.youtube.com/watch?v=z4Q6ywV6ZOE (Öffnet in neuem Fenster)

Ja, Pop kann immernoch politisch sein.

Russland, oh, Russland, wer möchtest du sein?

Im Schlechten wie im Guten?

Joe

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