Gedanken, Lesen
Am Mittwoch der vergangenen Woche habe ich vor dem "wissenschaftlichen Nachwuchs" der Kinderimmunologie am Universitätsklinikum hier in Hamburg einen Vortrag gehalten. Der Vortrag trug den (frei übersetzten) Titel: "Mehr als Babyspeck - Über das Immunsystem im Fettgewebe". Dabei habe ich nicht nur über meine Forschung und eventuelle Anknüpfungspunkte für Kindermedizin gesprochen. Ich habe den jungen Ärztinnen und Ärzten (etwa in meinem Alter) auch ein paar Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Einer davon lautete:
Nehmen Sie sich die Zeit zum Lesen – und die Zeit zum Nachdenken!
Und zwar nicht nur in dem Bereich, in dem man selbst arbeitet und/oder forscht, sondern es geht auch darum, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und sich in Bereiche zu wagen, in denen man sich nicht auskennt.
Ich selbst habe mir in Vorbereitung auf diesen Vortrag zunächst die Zeit genommen, einige Übersichtsarbeiten zu lesen. Diese Artikel behandelten Themen, die zunächst nichts mit meiner Forschung zu tun hatten, wie zum Beispiel die Entwicklung des Fettgewebes nach der Geburt und Übergewicht bei Kindern. Außerdem habe ich mir Statistiken der Weltgesundheitsorganisation und Berichte des Bundesgesundheitsministeriums angeschaut. Eine Beschreibung fand ich besonders interessant.
Aller Anfang ist schwer
In den ersten sechs Lebensmonaten nehmen Babys stark an Körperfett zu. Die Zunahme des Fettgewebes ist für den Säugling jedoch kein Problem, sondern ein gesunder Entwicklungsschritt. Ab dem ersten Lebensjahr bis zum fünften Lebensjahr nimmt vor allem die Körpergröße des (dann nicht mehr so kleinen) Kleinkindes zu und der BMI (=Body Mass Index) ab. Ich habe das hier mal aufgemalt (adaptiert von González-Muniesa et al. Nat Rev Dis Primers. 2017 (Öffnet in neuem Fenster)):

Dann habe ich über dieses Diagramm nachgedacht. Es lehrt uns:
Vieles in der Biologie ist eine Frage der Zeit. Gewichtszunahme im Kindesalter ist nicht Dasselbe wie Gewichtszunahme im Jugendalter.
Diese Überlegung ist interessant. Denn sie hilft uns zu verstehen, dass es in der Biologie nicht nur darum geht, WAS passiert, sondern auch darum WANN etwas passiert. In der wissenschaftlichen Veröffentlichung bin ich auf die Formulierung gestoßen, dass die ersten 1000 Tage des Lebens eine kritische Phase für die Ausprägung von Übergewicht (später im Leben) seien. So ist das auch zu lesen auf einer Seite der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V (Öffnet in neuem Fenster). Was bedeutet das konkret?
Zahltag
Wenn du - also die Person, die diesen Text gerade liest - heute, am 11. September 2023, geboren bist, dann kannst du diesen Text wahrscheinlich noch nicht selbst lesen, aber es sei dir gesagt, dass deine ersten tausend Tage auf dieser Welt bis zum 7. Juni 2026 gehen werden. In dieser Zeit zählt es sogar noch mehr als sonst, wie gesund du dich ernährst.
Ungesunde Ernährung in dieser Frühphase des Lebens prägt unsere Stoffwechselprozesse bis ins hohe Alter. Wenn wir während der ersten tausend Tage etwa zu viel Zucker zu uns nehmen, steigt das Risiko, später "zuckerkrank" zu werden und Typ-2 Diabetes zu entwickeln.
Diese Sache mit den tausend Tagen und der Umstand, dass bei vielen Sachen das Timing besonders wichtig ist, kam beim Publikum meines Vortrags gut an, wie mir in den Nachgesprächen gesagt wurde. Eventuell werde ich jetzt sogar in eine klinische Studie eingebunden, bei der die Fettgewebsentwicklung bei Frühgeburten erforscht werden soll. Denn Frühchen – wie ich auch eins war, übrigens – bekommen hochkalorische Kost, um schnell an Gewicht zu gewinnen. Geklärt werden soll jetzt die Frage, wie sich das genau auf den Stoffwechsel auswirkt. Denn wir haben ja schon gelernt, dass die Zunahme der Fettmasse in den ersten sechs Lebensmonaten etwas Positives ist.
Der Lernprozess
Für meinen Vortrag hat es sich also ausgezahlt, dass ich mir im Vorhinein die Zeit genommen habe, zu lesen und mir Gedanken zu machen. Dieses nützliche Verhalten habe ich mir zugegebenermaßen bei Jemandem abgeschaut, nämlich bei Avram Hershko.
Der israelische Chemie-Nobelpreisträger saß beim Lindau Nobel Laureate Meeting 2023 auf dem Podium einer Diskussion zum Thema "Künstliche Intelligenz" (KI). Auf die Frage des Moderators, was seine Forschung mit KI zu tun habe, antwortete Hershko kurz und bündig: "Nichts." Nach einer Kunstpause, die für Lacher im Publikum reserviert war, führte er aus, dass er sich vor Monaten, als er die Anfrage für die Podiumsdiskussion erhielt, bewusst dafür Zeit nahm, sich in das Thema einzulesen. Er las Fachaufsätze sowie einige Essays von Intellektuellen wie Yuval Noah Harari. Als er dann das Gefühl hatte, Potenziale und Probleme von KI zu verstehen, beendete er seine Lektüre und läutete Phase zwei seines Vorbereitungsprozesses ein: Das Nachdenken. Er nahm sich also Zeit, über KI nachzudenken und formulierte dann einige Kernthesen, die er gern besprechen würde. Diese las er schließlich auf dem Podium fast spitzbübisch von einem kleinen Notizzettel ab, den er mit auf die Bühne gebracht hatte.
Hershkos Thesen haben die Diskussion ungemein bereichert, obwohl er kein Experte auf diesem Gebiet ist. Aber er ist Experte in etwas anderem: im Lesen und im Nachdenken. Und wenn man diese Fähigkeit trainiert, wenn man sie auch in Bereichen anwendet, mit denen man normalerweise nichts zu tun hat, wenn man sich also an Themen heranwagt, die zunächst einmal nicht in der Komfortzone liegen, dann tut man sich selbst einen großen Gefallen. Und am Ende schließt sich der Kreis sowieso und auch Dinge, die vielleicht relativ fachfremd sind und über die man sich Gedanken gemacht hat, helfen einem plötzlich und unerwartet in der eigenen Karriere weiter.
Natürlich verläuft ein solcher Lernprozess, der durch Lesen und Nachdenken angestoßen wird, nie geradlinig. Im Gegenteil: Er ist im besten Sinne kafkaesk verschlungen und undurchsichtig. Man weiß nie, wo, wann und als was man am Ende ankommen wird (man wird vielleicht nicht plötzlich als Käfer erwachen, aber eventuell als ein anderer Mensch!) So habe ich es auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs in der pädiatrischen Immunologie erklärt.
Wir müssen immer produktiv sein, da lohnt es sich nicht, über fachfremde Themen zu lesen und nachzudenken, oder? Doch, möchte ich euch zurufen. Es lohnt sich zum Beispiel, um an einer Frühgeborenen-Studie teilzunehmen oder einen neuen Newsletter-Beitrag zu schreiben – mindestens.