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Ich sehe Dich!

"Die Trauer ist eine anspruchsvolle Dame. Sie will gesehen, gehört ernst genommen, verstanden, akzeptiert, aber auch mitfühlend bestätigt werden." Diese Aussage stammt von Dr. Jorgos Canacakis. Bei ihm habe ich meine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht.

Und in dieser Ausbildung habe ich gelernt, dass Trauer nicht gleich Trauer ist. Es macht einen sehr großen Unterschied, ob ich meine Tränen ganz alleine im stillen Kämmerlein weine, oder ob ich mich mit meiner Trauer offen zeige und Verständnis erhalte und gesehen werde. Trauer verlangt nach Raum, und zwar in unserem alltäglichen Kontakt mit Familie, Freunden, Bekannten und Kollegen und Kolleginnen. Denn die Trauerfähigkeit wurde uns mitgegeben, damit wir mit dem Leben, so wie es sich uns zumutet, umgehen können. Über die Trauer findet der Schmerz Ausdruck und Heilung. Er verschwindet nicht. Aber er wandelt sich, so dass er uns irgendwann nicht mehr erdrückt und wir ihn liebevoll umarmen können.

So der Idealfall. Die Realität sieht jetzt leider anders aus. In der Regel ziehen wir uns mit unserer Trauer zurück in den Privatbereich und versuchen im Außen so gut wie möglich weiterzufunktionieren. Da Trauer so wenig im Außen gelebt wird, fühlen sich auch viele Menschen sehr unsicher im Umgang mit Trauer und gehen dem direkten Kontakt oft intuitiv aus dem Weg. Es fehlt an Selbstverständlichkeit. Wir lachen selbstverständlich zusammen, warum weinen wir so wenig zusammen? Und dabei braucht es so wenig. Es geht gar nicht ums Trösten. Die Trauer ist auch nicht zu trösten. Die Trauer braucht ein Gegenüber mit offenen Ohren und zugewandtem Blick. Und die Trauer braucht unser Mitgefühl. Kein Mitleid. Aber Verständnis. Sie möchte spüren, dass sie berechtigt ist.

Bekommt die Trauer ihren Raum nicht, so findet sie keinen Ausdruck und bleibt in unserem Körper hängen. Als Magenschmerzen, als Kloß im Hals, als Stein auf dem Herzen. Schlucken wir unsere Tränen runter statt sie fließen zu lassen, bilden sich innere Stauseen, die uns von jetzt auf gleich unkontrolliert überschwemmen können. Wir zeigen Krankheitssysmptome, für die wir beim Arzt Diagnosen bekommen. Heilung finden wir nicht. Denn solange die Trauer nicht fließen darf, kann sich auch körperlich nichts lösen.

Und je länger wir unsere Trauer zurückdrängen, umso mehr braucht es für eine Heilung. Denn über eine lange Zeit bauen wir ganze Mauern um unser Herz und versteinern emotional regelrecht. Dann ist viel Arbeit notwendig, um die Verhärtungen wieder zu lösen, damit die Trauer überhaupt fließen könnte, wenn sie denn Raum bekommt. Ich treffe sehr oft Menschen, die mir erklären, dass sie seit Jahren nicht mehr geweint haben und dass sie auch überhaupt nicht mehr weinen können. Sie spüren zwar den Drang zu weinen, aber die Tränen fließen einfach nicht. Sie kommen nicht durch bei all den Mauern. Ich selbst bin sehr feinfühlig und sensibel und spüre den Schmerz dieser Menschen durch ihre  Schutzmauern und -masken hindurch. Manchmal löst dieser Schmerz sogar Tränen bei mir aus. Tränen, die ich stellvertretend weine, weil wir alle miteinander verbunden sind. Weil wir alle eins sind.

Ich spüre dann den sehr tief liegenden Schmerz der vielen abgetrennten Herzen, die sich nach Verbindung und gesehen werden sehnen. Und ich träume dann von einer Welt, in der wir wieder alle mehr in die Verbindung mit unserem Herzen gehen. In der wir weniger funktionieren und unsere Masken ablegen . In der wir uns offen und ehrlich gegenübertreten und uns gegenseitig sehen. So wie wir sind. Mit unserer Freude, unserer Wut und unserer Trauer. Mit unserem geöffneten Herzen und unserer bedingungslosen Liebe.

Und es liegt ganz an uns, ob dieser Traum wahr werden kann. Wir können heute den ersten Schritt tun. Wir können zum Telefonhörer greifen oder das Emailpostfach öffnen und uns bei einer Seele aus unserem Freundes- oder Bekanntenkreis ganz ehrlich erkundigen, wie es ihr geht. Wir können den Kollegen oder die Kollegin offen und ehrlich ansprechen, wenn wir sehen, dass ihn oder sie offensichtlich etwas bedrückt. Wir können uns ein Herz fassen und auf die Frage, wie es uns geht, ehrlich und offen antworten, statt nach einem kurzen "Gut" zum nächsten Thema überzugehen. Es mag sein, dass nicht alle auf unser Kontaktangebot eingehen. Und dennoch wird es die Seelen geben, die es tun. Und tut es auch nur eine, so haben wir schon etwas bewirkt.

Horch mal tief in Dich hinein. Wie wäre es für Dich, wenn Dich jetzt jemand ganz ehrlich fragen würde, wie es Dir geht? Und was würdest Du sagen, wenn Du dann ganz ehrlich antworten würdest? Und was würde das mit Dir machen, wenn diese Seele Dir dann antworten würde: "Ich sehe Dich!"

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