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Twitter - Warum es keinen Ersatz geben kann

Es kann kein neues Twitter geben, nachdem Elon Musk das alte kaputtgemacht hat. Weil die Umstände sich geändert haben.

Spätestens seit Elon Musk Twitter übernommen und es mit jeder seiner größenwahnsinnigen Ideen schlechter gemacht hat, irren viele Menschen, denen Twitter ein digitales Zuhause war, auf der Suche nach einem neuen Twitter orientierungslos, verwirrt und enttäuscht durch das Internet. Jemand, der Twitter ganz unemotional genutzt hat, kann vermutlich nicht ganz verstehen, wie man einem technischen Dienst so verfallen sein, ihn so betrauern kann.

Schauen wir uns also an, was Twitter für mich und viele andere Menschen war.

Twitter, the Golden Age

Als Twitter 2007/2008 begann, war es - ich behaupte das jetzt einfach mal aus der anekdotischen Evidenz heraus - lebensverändernd. Ich würde behaupten, dass vor allem neurodivergente Personen hier eine Plattformen vorfanden, in der es so einfach war wie nie zuvor, ähnliche Menschen zu finden. Clevere, wortgewandte Geister, die ihr bisheriges Leben in Stille, Isolation und Andersartigkeit ausgehalten hatten.

Ich selbst habe bei Twitter Freundinnen und Freunde gefunden, einen Liebhaber und einen Ehemann, mit dem ich immerhin rund zehn Jahre zusammen war. In meiner Twitterblase gab es viele Twitterpaare und regelmäßige Twittertreffen. Ich habe anderen Twitteratis beim Umzug geholfen, Twitteratis haben mir beim Umzug geholfen, Twitterkontakte haben mich nach meiner Trennung wieder aufgerichtet, ich habe mit Twitteratis geweint und gelacht.

Der Satz “Ist doch nur Internet und nicht das reale Leben” könnte von der Realität dieser Erfahrungen nicht weiter entfernt sein. Twitter war das reale Leben.

Gleichzeitig war Twitter DAS Medium für Menschen mit Sprachbegabung und Humor. Wer es schaffte, in anfangs 140, später 280 Zeichen witzige, geistreiche, pointierte, kluge Gedanken zu verfassen, kam mit seinen Verfolgern schnell in den vierstelligen Bereich. Besonders erfolgreiche Twitterhasis veröffentlichten Bücher mit ihren Tweets oder wurden als Gagschreibende entdeckt und vom Fleck weg engagiert. Twitter brachte Aufmerksamkeit für Worte, Handarbeiten, Illustrationen und mit der Aufmerksamkeit kamen Aufträge.

Zum bezahlten Talent durch Twitter - auch das war reales Leben.

Twitter - The day after

Menschen, die in der beschriebenen Art mit Twitter verwachsen waren, haben dessen schrittweisen Verfall nicht nur mit Unmut, sondern sicher auch einer tief wurzelnden Panik verfolgt. Was kommt danach? Was dann? Wohin? Der Kipppunkt, an dem Twitter aus technischen und/oder Gewissensgründen nicht mehr tragbar sein würde, rückte spätestens mit der Übernahme durch Elon Musk unaufhaltsam näher.

Hate Speech, Trolle und Propaganda-Accounts gab es auch schon vor Musk, aber erst danach nahmen diese ein Ausmaß an, das man als anständiger Mensch nur noch mit Bauchschmerzen tragen konnte. Putschisten, Propagandisten, Demagogen, Rechtsradikale, die vor der Übernahme wegen ihrer menschenfeindlichen Ausfälle gesperrt worden waren, wurden wieder entsperrt, weil Elon Musk die Welt offensichtlich gerne mal brennen sehen möchte.

Als dann auch noch die persönliche Timeline gegen ein algorithmusgesteuertes Ungeheuer umgewandelt wurde, in dem eben nicht mehr die eigene Zuhause-Blase, sondern fremde, verstörende, uninteressante Accounts angezeigt wurden, als die Aufmerksamkeit für eigene Tweets nicht mehr abhing von Followerzahlen und Retweets, sondern nur noch von eben jenem Algorithmus und der Bereitschaft, für Twitter - pardon, X zu bezahlen, da war es Zeit, sich einer Wahrheit zu stellen, die viele User bis dahin verdrängt hatten: dass Twitter tot war.

Seitdem irren wir, irren sie orientierungslos umher auf der Suche nach einer Plattform, die das Gewesene ersetzen kann. Stürzen sich auf alles, was ein neues Wohnzimmergefühl vermitteln und die Grenzen zwischen Internet und “realer Welt” einreißen kann. Ello, Mastodon, Bluesky und zuletzt Threads. Jede dieser Plattformen erlebte nach einer x-beliebigen Änderung bei Twitter einen Zulauf, um dann schon kurz danach wieder im Ordner “Und andere” zu verschwinden.

There is no Twitter after Twitter

Bis vor Kurzem gehörte ich auch zu diesen Versprengten. Auch wenn ich Twitter immer als vollständige Person genutzt habe, also traurig, fröhlich, seriös, albern, betrunken, heulend, diskutierend, Wertvolles und Wertloses von mir gebend, war es für meine Tätigkeit als Autorin und Bloggerin eine wichtige Plattform. Die Aussicht, Twitter und damit meine in Spitzenzeiten fast 9000 Follower zu verlieren, war für mich eine katastrophale Vorstellung. Ich musste etwas finden, das genauso funktionierte. Zu merken, dass keine der anderen Plattformen an mein Twittergefühl herankam, trieb mich um, quälte mich. Bis ich verstand, warum die Plattformen Twitter gar nicht ersetzen konnten.

Als Twitter begann, besetzte es nicht nur eine ökologische Nische im Netz, es schuf sie erst. Außer ihm gab es nur noch Facebook und bald darauf Instagram (damals noch nicht Teil des Zuckerberg-Universums), doch beide waren technisch und inhaltlich so deutlich anders als Twitter aufgestellt, dass es keine direkte Konkurrenz gab - zumindest nach meinem Gefühl. Das bedeutet, Twitter bot etwas Einzigartiges, das keine andere Plattform bot. Genauso wie Instagram etwas Einzigartiges bot, das keine andere Plattform bot.

Das ist heute, rund 15 Jahre später anders.

Zum Einen gibt es heute, anders als damals, Konkurrenz. Twitters Monopolstellung als Diskursplattform und Meinungsanzeiger konnte nur entstehen, weil es damals allein auf weiter Flur war. Als andere Plattformen merkten, wie beliebt Twitter geworden war, und versuchten, ihm den Rang abzulaufen, war Twitter längst außer Reichweite. Kein soziales Netzwerk, das heute neu vom Stapel läuft, kann mehr in den luftleeren Raum stoßen, in den Twitter damals stieß.

Das bedeutet, dass sich nie wieder die Menschen, die wir schätzen oder interessant finden, so gemeinschaftlich auf einen digitalen Ort stürzen. Sie stürzen sich jetzt auf mehrere digitale Orte, dem Einen gefällt es bei Mastodon besser, der Anderen bei Bluesky und den ganz Seltsamen bei Threads. Wir werden uns nie wieder so geballt auf einer Plattform finden, weil es heute schlicht mehr Plattformen gibt.

Doch nicht nur die Menge der Möglichkeiten hat sich verändert, auch wir Nutzende haben es. Während Twitter und Instagram damals auf eine geradezu unschuldige Menschenmasse trafen und dadurch bei Vielen ein “Endlich angekommen”-Gefühl erzeugten, sind wir heute nicht mehr unschuldig. Wir kennen die Vor- und Nachteile von Social Media, wir sind vertraut mit den giftigen Gruppendymiken, mit Trollen und Bot-Armeen. Wir haben Shitstorms kommen und gehen sehen oder selbst durchgestanden. Wir wissen um die Lügen, die Fakes, die dramatischen Auswirkungen von Social Media auf die Demokratien dieser Welt.

Die kindliche Begeisterung, ja, Naivität, mit der sich viele Nutzende (ich auch) auf Twitter gestürzt haben, ist fort. Wir sind müde. Sehnen uns nach unserem Wohnzimmer-Twitter wieder, das noch erfrischend unpolitisch war. Aber das kommt nicht wieder. Und wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, war es schon vor Elon Musk schwer siechend.

Das ist tragisch, es macht mich auch traurig, aber ich suche keinen Ersatz mehr, seit mir die veränderten Umstände klar geworden sind. Ich vergleiche neue Plattformen also nicht mehr mit “meinem” Twitter, sondern bewerte sie rein nach der Bedienbarkeit und dem Mehrwert, die sie mir bieten.

Aktuell siegt für mich dabei Bluesky, wo Ihr mich unter @meikestoverock (Öffnet in neuem Fenster) findet. (Aktuell braucht man für das Netzwerk noch Invite-Codes, aber ich habe vier verfügbar. Wer also dort nachschauen möchte, kann mir - oh, die Ironie! - bei Twitter (Öffnet in neuem Fenster) oder Instagram (Öffnet in neuem Fenster) eine Nachricht schicken.)

In meinen Therapien habe ich gelernt, dass das Festhalten an Altem das ist, was Schmerz erzeugt. Der Schmerz kann sich nur lösen, wenn man loslässt. Aber nicht nur der Schmerz löst sich dann, sondern man kann auch positiv auf Veränderungen schauen.

In diesem Sinne lege ich eine Blume auf das Grab von Twitter und freue mich, dass ich für den Moment in Bluesky eine Plattform gefunden habe, die genau die Mischung aus Blödsinn und Information ist, die mich bereichert.

Immer dran denken: Embrace the change.

Foto von Jorge Urosa von Pexels (Öffnet in neuem Fenster)

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Kategorie Kessel Buntes

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