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In Vielfalt geeint und trotzdem uneins

Was die Europäische Union nationalistisch macht und warum das nichts Schlechtes ist

Nationalismus wird vorwiegend mit der wohl dunkelsten Epoche der europäischen Geschichte assoziiert. Unweigerlich verknüpft mit den Gräueltaten der faschistischen Regime: Deportationen, Völkermorde, Zerstörung. Weltweit stehen nationalistische Gruppierungen auch heute noch für Chauvinismus und Exklusion und befeuern so die negative Konnotation des Begriffes. Dabei ist Nationalismus nicht grundsätzlich negativ. Und dass ein positiver Nationalismus auch in der Praxis funktionieren kann, wird durch die Europäische Union deutlich.

Der Ursprung des Nationalismus – auch wenn man den Begriff damals noch nicht kannte – liegt eigentlich in den ersten Bestrebungen, souveräne und ökonomisch orientierte Nationalstaaten zu etablieren, losgelöst von Feudalherren und Monarchen. Ein ethnisch zu trennendes Volk, frei und gleich (im damaligen Sinne), geeint durch eine geographische Grenze und eine gemeinsame Sprache, unter einem Banner. Wie ein Lauffeuer breitete sich die Idee von national-liberalen Freihandelszonen schließlich auch im Europa des 19. Jahrhunderts aus. Nach und nach rückten die Herzogtümer und Königreiche immer weiter in den Hintergrund, bis Bayern, Sachsen und Preußen sich weitestgehend selbst als deutsch verstehen sollten.

Ein elementares Instrument auf diesem Weg war das Konstrukt der nationalen Identität. Durch ein gemeinsames Selbstverständnis, abgegrenzt von anderen Völkern durch Ethnie, Kultur und Sprachraum, wurde ein Gemeinschaftsgefühl bis hin zum Patriotismus etabliert; so legitimiert sich eine Nation stets durch den Zuspruch seiner Bevölkerung.

Eine derartige Transformation der kollektiven Identität ist ein langwieriger Prozess, der bis heute andauert. Laut einer Studie der Identity Foundation von 2009 fühlten sich „80,5 Prozent der Bevölkerung sehr stark bis stark als Deutsche”; immerhin 51,8 Prozent davon identifizieren sich sehr stark bis maximal als deutsch. Dass sich die gesamtdeutsche Identität aber noch immer nicht gänzlich durchsetzen konnte, belegt auch eine Studie, die Infratest Dimap 2016 im Auftrag des Thüringer Landtages durchführte: 40 Prozent der befragten Personen fühlten sich als Thüringer:innen, 34 Prozent als Deutsche.

Im Laufe seiner Entwicklung schwankte der Nationalismus stets zwischen Exklusivität und Inklusivität, versuchte einerseits, Völker oder Stämme zu vereinen, grenzt sich aber auch bis heute prinzipiell durch Geburt oder Sprache von anderen Völkern ab. Trotz Rückfällen in Diktaturen und Monarchien sowie unzähliger Kriege dominieren weiterhin nationalstaatliche Bündnisse den identitäts-politischen Diskurs. Dabei hat insbesondere die Abhängigkeit vom globalen Handel mit Gütern und Ressourcen im Zuge der Industrialisierung enorm zugenommen und verhalf schließlich international-liberalen Bündnissen wie der EU dazu, seit ihrer Entstehung immer mehr an Einfluss zu gewinnen.

Die europäische Identität

Heute vereint die Supranation EU 27 nationale Identitäten mit 24 Amtssprachen durch gemeinsame Grenzen und Interessen. Aufgrund der bilateralen Abhängigkeiten wurde die Union letztendlich nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, um umfassende Freihandelsabkommen und Gesetzgebung in einem zentralen Gremium auszuhandeln. Doch nach und nach wird das mittlerweile weitgehend etablierte nationale Selbstverständnis durch ein noch größeres Konstrukt abgelöst: die europäische Identität.

Diese transnationale Identität besteht aus der kulturellen Identität – also der Vorstellung von Europa nicht bloß als Kontinent, sondern als eine kulturelle Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten – sowie der politischen Identität, die sich durch gemeinsame demokratische Strukturen ergibt. Einerseits agiert die EU inklusiv, lautet ihr Motto doch „In Vielfalt geeint”. Andererseits verhält sie sich ebenso wie ihre Mitgliedsstaaten klar exklusiv, indem sie sich geographisch aber auch durch die Zugehörigkeit zum Bündnis selbst abgrenzt.

Wie Nationalstaaten muss sich auch die Supranation EU durch ihre Bevölkerung legitimieren; eine komplexe gemeinschaftliche Identität, die alle Europäer:innen zu berühren vermag, ist jedoch schier unmöglich. Was bleibt, sind die klassischen identitätsstiftenden Werkzeuge wie Flagge, Kultur und Werte, ergänzt um moderne Instrumente wie Amtssprache, Hymne und Währung.

Die EU wird als liberales Bündnis angesehen, geleitet von gemeinsamen Werten und Interessen. Zentrale Entscheidungsgremien, die Währungsunion sowie das Konstrukt der europäischen Identität und die Exklusivität weisen allerdings eindeutige Parallelen zum Nationalismus auf. Somit ist es naheliegender, die EU eher als supranationalistisch, anstatt als liberal zu verstehen.

Platz für einen diversen Nationalismus

Ebenso wie die deutsche Identität vermag es aber auch die europäische nicht, sich gänzlich durchzusetzen: Während sich der Eurobarometer-Umfrage von 2017 zufolge in Deutschland 82 Prozent als europäisch verstanden, fühlten sich nur 68 Prozent der Europäer:innen tatsächlich als EU-Bürger:innen. Zwar mögen die nationalen Identitäten nie von einer gesamteuropäischen verdrängt werden, doch bleibt dieser Kurs der einzig richtige, um zukünftige Hürden gemeinsam zu meistern. Dafür muss sich die EU aber darüber im Klaren werden, dass die europäische Identität grundsätzlich eine diverse sein muss. Keine konstruierte Einheit vermeintlicher Interessengemeinschaften, sondern geeint durch die Vielfalt - wie es ja auch das Motto verlangt.

Egal ob nun liberal oder supranationalistisch: Damit die Europäische Idee verwirklicht werden kann, braucht es in Zukunft eine ausschließlich inklusive Strategie der EU. Verwahrloste Flüchtlingslager an den Toren sind keine Anzeichen für einen “Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts”. Es zeugt ebenfalls nicht von “Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten”, wenn Länder wie Griechenland mit den Herausforderungen der Migration allein gelassen werden. Und der Grundsatz der “Förderung von Frieden, der Werte und des Wohlergehens” bleibt schlichtweg ein egoistischer, solange er sich weiterhin nur auf die Mitglieder der Union beschränkt.

Der konservative Nationalismus hat seine lebensnotwendige Ernsthaftigkeit, die er noch während der Kriege hatte, längst verloren und lässt Platz für einen diversen Nationalismus. Zumindest ansatzweise findet sich dieser bereits in der EU wieder. Doch die Union muss mit der Zeit gehen und erkennen, dass die Exklusivität des Supranationalismus genauso überholt ist wie die der Nationalstaaten. Nur so lässt sich der Weg für eine zeitgemäße, kosmopolitische Welt ebnen. Geeint durch die Grenzen des Globus und gemeinsame Interessen, unter weißem Erdkreis und Olivenzweigen auf himmelblauem Grund. Und wer weiß, vielleicht werden wir in etwa 200 Jahren endlich dazu bereit sein, unsere regionalen, nationalen und transnationalen Identitäten als imaginäre Konstrukte zu begreifen und stattdessen das Menschsein als Kern unserer Identität zu bestimmen.

von Tobias Leiser