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Schluss mit der Stigmati-sierung von Systemsprenger:innen

Ein Einblick in das Verhalten einer jungen “Systemsprengerin”, wie Pädagog:innen mit ihr arbeiten und was die Medien  an der Berichterstattung ändern müssen.

Emma* ist acht Jahre alt, besucht eine Grundschule in Sachsen-Anhalt und gilt als „Systemsprengerin”.

Sie verhält sich aggressiv, selbstbestimmt und mag sich nicht wirklich in vorgegebene Strukturen einbringen. Gleichzeitig ist Emma empathisch, sehr kreativ, spielt gerne mit anderen Kindern, hat keine Angst vor dem Ball und hat Spaß beim Fußballspielen.

Menno Baumann, Professor für Intensiv-Pädagogik an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf, versuchte 2014 den Begriff „Systemsprenger” folgendermaßen zu definieren: Ein „Hochrisiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet.“ Laut Baumann könne der Begriff dann verwendet werden, wenn klar sei, dass es sich dabei nicht um ein Persönlichkeitsmerkmal handle, sondern um ein komplexes Problem der Sozialsysteme. Häufig werden Systemsprenger:innen bestimmte Verhaltensweisen zugeschrieben, wie zum Beispiel Aggressivität oder Unangepasstheit und Impulsivität.

Der stellvertretenden Leiterin der Hort-Einrichtung, die Emma besucht, ist das zu defizitär. Sie sagt: „Ja, Emma ist impulsiv. Aber das sind auch ganz viele andere Kinder. Kinder dürfen das auch noch.“ Sie arbeitet mit Emma auch in Einzelsitzungen. Dabei sei es zunächst so gewesen, dass Emma erst lernen musste, dass in diesem Raum die Regeln der Erzieherin gelten. Dennoch genießt Emma diese Zeit, denn sie kann sich gut über Körperkontakt, Eins-zu-eins-Betreuung und Entspannungsmusik regulieren. Ihr Teddy ist ihr dabei auch besonders wichtig, denn er hilft ihr sich zu entspannen. Gelegentlich erleidet Emma Zusammenbrüche; Momente, in denen ihr klar wird, dass sie andere Menschen gerade beinahe oder tatsächlich verletzt hat. Sie weint und braucht einige Zeit, bis der Druck, der dann auf ihr lastet, abfällt. Im Kontakt mit anderen Kindern merkt man, dass sie diesen sozialen Umgang erst noch lernen muss. Denn in der Schule ist Emmas größte Herausforderung nicht, wie bei anderen Gleichaltrigen, das Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen, sondern den sozial-emotionalen Umgang mit ihren Mitschüler:innen. Das hat zur Folge, dass Emmas Freundeskreis immer mal wieder wechselt. Einige Kinder können sich sehr gut auf sie einstimmen, da sie auch gerne bastelt und viele eigene Ideen einbringt. Am besten klappt das Spielen mit anderen Kindern an Tagen, an denen Emma mit sich selbst im Reinen ist.  Trotzdem kann diese Stimmung schnell kippen. Im Hort gibt es jedoch nicht nur Kinder, die sich sehr gut auf Emma einstellen können und Verständnis haben. Es gibt genauso auch Kinder, die die Situation ausnutzen, um beispielsweise von sich selbst abzulenken und die genau wissen, was sie tun müssen, damit Emma “ausrastet”, sodass sie am Ende Ärger bekommt.

Nach dem ersten Jahr in der Horteinrichtung gibt es immer mehr Momente, in denen  Emma entspannter wird. Der Zugang zu ihr ist dennoch schwer. Sie braucht viel Zeit und Erfahrung, denn jedes positive Erlebnis, das sie macht, wird ihr helfen und ihr zeigen, dass nicht alle Menschen gleich sind und sie nicht von allen abgelehnt wird. Die Wiederholungen dieser positiven Erfahrungen sind für Emma sehr wichtig.

Wie sollten die Medien berichten?

Die stellvertretende Hortleiterin gibt zu bedenken, dass durch die oft fehlende Berichterstattung Systemsprenger:innen in der öffentlichen Wahrnehmung womöglich nicht als Teil unserer Gesellschaft auftreten. Dieser Umstand ist für sie und andere Pädagog:innen jedoch längst Alltag. Durch die fehlende Thematisierung würde es für die Kinder noch einmal schwieriger werden, in der Gesellschaft anzukommen. Um dem entgegenzuwirken braucht es mehr Personal und finanzielle Mittel. In der klassischen  Erzieherausbildung lernt man nicht, dass es solche Kinder gibt oder wie man mit ihnen umgeht. Handlungsbedarf besteht auch darin, geschultes Fachpersonal auszubilden. Sie wünscht sich, dass es grundsätzlich mehr Diversität in der Medienlandschaft gibt, frei von Wertung, um Stigmatisierung zu vermeiden. Haltung sollte ihrer Meinung nach thematisiert werden, im Sinne von: „Wer gibt dir das Recht zu werten?“. Den Begriff „Systemsprenger:in“ findet sie gut, weil er für sie viele Ressourcen aufzeigt: 

„Da ist jemand, der sich gegen unser starres System auch ein Stück weit auflehnt und zumindest den Versuch unternimmt, sich da nicht reinpressen zu lassen, weil es nicht seinen Bedürfnissen entspricht und dem, was er braucht.“

Aufgrund dessen betont sie auch, dass wir unser System überdenken sollten und dass uns die Systemsprenger:innen aufzeigen, an welchen Stellen es Probleme gibt.

* Name von der Redaktion geändert

von Lea Wesemann