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Selbstbewustsein Made in Germany

Niemanden habe ich kollektiv so selbstkritisch erlebt wie uns Deutsche. Mit dem Deutschsein (Öffnet in neuem Fenster) hat man ein Problem zu haben, sonst stimmt irgendwas nicht. Obwohl der  deutsche Pass einer der begehrtesten der Welt ist, hält er im eigenen  Land nicht so richtig, was er verspricht

Weder stiftet  er deutsche Identität, noch bringt der Pass in der Tasche zwangsläufig  ein Gefühl für die Privilegien, die mit ihm einhergehen: freies Reisen  zum Beispiel, rechtsstaatliche Sicherheit oder den Anspruch auf  Grundversorgung. Im Gegenteil. Wir mäkeln an unseren Instiututionen wie  ein vor dem Teller sitzendes Kind, das den Spinat nicht aufessen mag. 
Die  Tatsache, dass man nach dem 2. Weltkrieg mit Marshallplan, uns  gewogenen Alliierten und gelungenem Wirtschaftswunder eine halbwegs  gerechte Republik schaffen konnte, die ihresgleichen sucht - geschenkt!  Das Grauen, welches wir über die Welt brachten, mussten wir auch nicht  wirklich ausbaden. Im Gegenteil. Wir bekamen die Mischbatterie im Neubau  und machten uns bei Englandreisen in den 1970er Jahren in touristischer  Lautstärke darüber lustig, dass dort das Badewasser druckarm aus einem  kochend heißen und einem kalten Wasserhahn in die Wanne tröpfelte.

In  der Bundesrepublik floss nicht nur das perfekt temperierte Badewasser,  sondern auch Bildungswohlstand, Gewerkschaften und nagelneue  Infrastruktur. Das schlechte Gewissen für die systematische Ermordung  von Millionen von Menschen hätte allein wegen seines messbaren Ausmaßes  viel mehr Raum im deutschen Nachkriegs- und Republiksalltag einnehmen  müssen. Dabei habe ich noch nichtmal die vielen zerstörten,  traumatisierten und traurigen Biographien in Betracht gezogen, die mit  dieser deutschen Geschichte verbunden sind, wie man es eigentlich tun  müsste, um einem so grossen Thema gerecht zu werden.

Für mein  Empfinden passen das Ausmass am Grauen und Zerstörung nicht mit der  Erholung und dem Wohlstand nach dem deutschen Wiederaufbau zusammen.  Doch muss ich mich  konsequenterweise fragen: wie hätte es denn sein sollen, wie hätte es gepasst, und wie hätte es  ausgesehen haben müssen?  Darauf  weiss ich auch keine Antwort. Aber ich kann mir eine Haltung  vorstellen, die Wohlstand, Redefreiheit und Rechtstaatlichkeit nicht für  selbstverständlich hält. Konsequent weitergedacht würde die Erkenntnis,  dass diese Privilegien Errungenschaften und keine  Selbstverständlichkeiten sind vielleicht unsere Angst, dass ohne  russisches Öl und Gas gar nix mehr geht, ein wenig relativieren.

Im  Frühjahr 2022 diskutieren wir über unsere Verantwortung gegenüber der  Ukraine. Sollen wir alle Waffen liefern, die wir haben, wenn uns die  Ukrainer darum bitten? Ein konsequentes Energie-Embargo? Das hätten wir  sofort tun sollen, spätestens gestern. Schon allein deshalb, damit  dieser Krieg so militärisch wie möglich geführt werden kann und nicht  durch Morde und Vergewaltigungen an Kindern und Frauen noch grausamer  wird, als er ohnehin schon ist. Allein das wäre ein Grund. Einer von  vielen.

Es ist richtig, wenn Beobachter das öffentlich  wahrgenommene Zögern kritisieren. Es kann nicht sein, dass wir dies in  unseren Köpfen und Herzen nicht wissen. Aber ich kann dies nur aus der  Position einer militärstrategisch Ungebildeten feststellen. Vielleicht  hat Kanzler Scholz ja einen Plan, den 70% der deutschen Öffentlichkeit  nicht verstehen. Und vielleicht tut er gerade genau das richtige, auch  wenn es sich komplett falsch anfühlt. Wer weiss das? Katastrophal bleibt  dennoch seine Kommunikation, ganz unabhängig von der Qualität seiner  Entscheidungen. Wenn man eine Führungsposition (ist Kanzler eigentlich  eine Führungsposition, in der man führt, oder ein Amt,  welches man möglichst beamtig bekleidet? Allein sprachlich scheint das  schon unentschieden) einnehmen will, muss man sein Verhalten öffentlich  schlüssig darstellen können und auch wollen. Soviel Zeit muss sein,  soviel Geschick müssen wir von unserem Kanzler erwarten. Die Grünen  kriegen es schliesslich auch hin. 
Selbst wenn man seine Strategien  nicht offenlegen will, muss man für eben dieses Nichtoffenlegenwollen  eine Sprache finden. Nennt es eine Erzählung, ein Narrativ, eine  Geschichte, ist mir egal, solange der Kanzler plausibel mit einer  mündigen deutschen Öffentlichkeit in Kontakt tritt. Ich kann mich nicht  erinnern, Vertrauen in unsere politische Führung je als nötiger  empfunden zu haben als gerade jetzt. Während der Corona-Krise war es mir  irgendwann egal, wer was wie gesagt hat. Aus Infos, gesundem  Menschenverstand, einer FFP2 Maske und Impfungen kann man da irgendwie  durch. Aber es macht mich komplett irre, wie wenig wir aus den maroden  Kommunikationmustern der Pandemie gelernt haben.
Ich wünsche mir  klare Worte in der Politik. In den fast sechs Jahren, die ich jetzt hier  lebe, habe ich viele gute Journalisten, Autoren und öffentliche Stimmen  entdeckt. Heute gibt es für schlechte Kommunikation keine  Entschuldigung mehr. Das ist eigentlich eine gute Nachricht. Fehler in  der öffentlichen Kommunikation sind gemessen an den grossen Aufgaben,  die wir als Menschenkollektiv gerade lösen müssen, wirklich leicht zu  verhindern. Und gerade wegen ihrer Vermeidbarkeit sind diese Fehler,  wenn sie dennoch passieren, schlicht unerträglich.