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Folge 113

Selbstporträt von Marie Bracquemond mit abwesendem Blick

Vorweg

Da möchte ich nicht mal begraben sein, sagen Menschen, wenn ein Ort so richtig abgewertet werden soll. Ich aber würde sehr gern hier, wo ich bin, begraben werden, natürlich nicht jetzt, sagen wir, so in 35, 40 Jahren. Wieso hier? Weil die Leichenwagen hier von Maserati sind, und das finde ich, die Keinautonärrin, schick. Maßvoller Autoeinsatz zu besonderen Anlässen steht ja ohnehin nicht in der Kritik, das übersehen die entrüsteten Zwei- bis Dreifachautobesitzer (wollen nicht gegendert werden, ok) gern beflissentlich.

Bisher habe ich Maserati-Leichenwagen in Schwarz, Weiß und Gold gesehen. Besser, als im goldenen Maserati mit 3 km/h zum Fotofriedhof (siehe Folge 110 (Öffnet in neuem Fenster)) gefahren zu werden, würde mir nur ein Trauerzug mit Schwanentretbooten gefallen oder mit von Kätzchen gezogenen Kürbiskutschen.

Etwas Altes: Novellen lesen

Ich lese gerade für einen eigenen Text hintereinander 29 Novellen. Im Folgenden meine Kürzestkritiken für die ersten fünf.

(1) Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili, 1807

* * * * *

Liest sich immer noch frisch, und der letzte Satz ist weiterhin top. Diese kurz aufflackernde menschliche Gemeinschaft aus Not, die im nächsten Augenblick wieder ins Mörderische kippt, kennt auch weiße Westmaus seit Corona aus dem eigenen Leben. Kann von mir aus gern Schulstoff bleiben, wenn ausreichend andere weiße Dudes rausfliegen.

(2) Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas, 1807

* * *

Klar, besser geschrieben als viele andere Texte weniger begabter Autor*innen, aber ich hasse Michael Kohlhaas, den Text, die Figur – er nervt mich wirklich noch mehr, als er im Text Luther nervt –, diese cool-heroische Guerilla-Attitüde, die sich aus dem Erzählten ableiten lässt. Brandgefährlicher Text für tiktokende junge cis Dudes, die bestimmt auch ganz fest glauben, nur einzufordern, was ihr gutes Recht ist. Heute verstehe ich, warum ich den Text schon früher nicht mochte: Er kann Frauen und andere gesellschaftliche Nebenfiguren mittelbar das Leben kosten.

Raus aus dem Kanon.

(3) Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte, 1813

* * *

Nervige, übersimple Male-tears-Geschichte. Hätte ich mich damals nur nicht, sonder lieber, buhubuhu. Der Teufel mit der Technik ist an allem schuld. Geld macht nicht glücklich. Liebe ist Leiden. Image ist alles. Wissenschaft tröstet. Natur heilt. Wie kann eine unheimlich daherkommende Geschichte nur so öde sein.

Raus aus dem Kanon.

(3) Joseph von Eichendorff, Das Marmorbild, 1819

* * *

Ähnlich einfach gestrickte Geschichte, in der ein – Überraschung! – junger, weißer Mann, Florio (als Vorname eine wirklich grauenhafte Erfindung des Autors) zwischen antikem Eros und christlicher Liebe hin- und hergerissen ist. Die aufmerksame Leserin stellt fest, dass Florio aber noch viel mehr von dem christlichen Läuterungssänger Fortunato hingerissen scheint, da wird verdammt viel über dessen Anmut und das eigene Wohlgefallen darüber geschrieben. Kritische Nachfrage: Kann die moralische Rettung Florios durch Fortunatos aufrechte Christen-Lieder wirklich funktionieren, wenn gleichzeitig so, zwinkazwonka, »antik« gebalzt wird? Stilistisch sehr unangenehm finde ich die Selbst-Adressierungen des Autors aus dem Text heraus. Adelbert dies, Adelbert das. Und Frauen, egal, ob christlicher Engel oder pagane Hure, kommen, mann muss es in der Zeit sehen, nur als Bilder vor: »Marmorbild«, »Standbild«, »Engelsbild« sowie der misogyne Schocker »schönes Bildchen«.

Als sie die Zweige hinter sich rauschen hörte, sprang das schöne Bildchen rasch auf, steckte die Larve vor und floh, schnell wie ein aufgescheuchtes Reh, wieder zur Gesellschaft zurück.

Das schöne Bildchen gibt dir gleich aufgescheuchtes Reh, Adelbertchen.

Raus aus dem Kanon.

Lustig fand ich, dass Fortunato ein Vorläufer der »Hast du es mal mit Yoga probiert«-Endgegner aller Depressiven ist.

»Der Morgen«, sagte Fortunato lustig, »ist ein recht kerngesunder, wildschöner Gesell, wie er so von den höchsten Bergen in die schlafende Welt hinunterjauchzt und von den Blumen und Bäumen die Tränen schüttelt und wogt und lärmt und singt. Der macht eben nicht sonderlich viel aus den sanften Empfindungen, sondern greift kühl an alle Glieder und lacht einem ins lange Gesicht, wenn man so preßhaft und noch ganz wie in Mondschein getaucht vor ihn hinaustritt.«

Fortunato, sei bitte leise, ich hatte erst einen Kaffee.

5) E. T. A. Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi, 1819

* * * *

Gar nicht schlecht für einen Serapions-Bro von Adelbertchen. Die junge weibliche Nebenfigur in dieser vermutlich ersten deutschsprachigen Kriminalnovelle, falls nicht demnächst noch eine aus der Geschichte getilgte einer Autorin auftaucht, hat zwar noch nicht übermäßig viel Eigenleben abbekommen, anders aber das Fräulein von Scuderi. Das, äh, sie, ist nicht nur Titel- und Hauptfigur, sondern wird als talentierte Autorin und gewitzte Person dargestellt, sie wirkt beinahe lässig. Die flotte Geschichte selbst klebt auch nicht zu sehr an binärer christlicher Moral, sondern mehr daran, was Individuen mitunter an Denkarbeit, aber auch Leid auf sich nehmen, um Unheil von anderen Menschen abzuwenden. Selbst der fiese Serienkiller macht ein, zwei nette Sachen, ich finde lustig, dass er sein minimal-ethisches Verhalten nicht durchhält, sobald es um Schmuck geht. Dass ich mich ein bisschen mit ihm identifiziere, kann ich nicht dem Autor vorwerfen.

Schon in der frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes Geschmeide über alles.

Kann bleiben.

Etwas Neues: Charles-Dickens-Katzenvideos

Für Viele bestimmt ein alter Genre-Hut, für mich ein neuer: Instavideos, in denen Menschen von ihrer Rettung einer Katze berichten. Katzenrettungsvideos lassen sich, wenn maus gern einordnet, als Cat Content, Vorher-Nachher- und Savior-Erzählungen betrachten. Blickt maus sarkastisch bis zynisch darauf, sind es auch Make-overs.

(1) Es beginnt mit einem Rückblick: So sah die Katze aus, als wir sie fanden/als sie zu uns kam. Die Katze sieht absolut fürchterlich aus, ist zerroppt, zerkloppt, verstümmelt, räudig, blutig, am Arsch. Die Katze ist auch traumatisiert, das zeigt ihr aggressives und verängstigtes Verhalten, sie fürchtet Menschen und lässt Berührung nicht zu. Die Musik im Video ist elegisch.

(2) Liebe Menschen investieren Zeit, Geld, Gefühle und päppeln die Katze auf, geben ihr Raum, gute Erfahrungen zu machen. Sie wecken im Publikum Gefühle der Bewunderung, Dankbarkeit, Erleichterung. Seien wir mal ehrlich: Nicht alle Menschen wären bereit gewesen, so ein eklig aussehendes, wüst rumfauchendes Vieh anzufassen und mitzunehmen. Die Musik gönnt erste muntere Töne.

(3) Die Katze lebt jetzt wie die Made im Speck. Ihre Wunden sind verheilt, das Trauma ist weitestgehend überwunden, ihr Fell glänzt auf Chinchillaniveau. Wir sehen die glücklichste, dankbarste, beste Katze der Welt. Wie cute kann ein Hundertjähriger mit Diabetes sein. Happy Music.

Der Algorithmus hat schnell erkannt, dass ich auf diese Videos stehe und ballert sie mir nun andauernd rein. Katzenrettungsvideos kicken, so wie früher Charles-Dickens-Romane kickten. Bei beiden steckt ja anscheinend auch ein ordentliches Maß echte Empathie dahinter, auch Aufklärungswille, es ist ja wirklich gut, wenn Menschen sich um Mitkreaturen kümmern.

Aber wie früher bei Dickens habe ich auch immer ein bisschen das Gefühl, dass ich in der gleichen Zeit, in der ich soziale Inhalte konsumiere und dabei ein bisschen Heuli mache, auch gut selbst etwas Soziales tun könnte. Hält mich ausgerechnet engagierte Literatur manchmal, weil es sich so ethisch schön anfühlt, sie zu lesen, vom Engagement ab?

Für die Katzenrettungsvideos kann ich es sicher beantworten: Sie dienen allein meiner Unterhaltung, selbst wenn sie vermutlich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ich irgendwann im Leben ein Rudel hundertjähriger Katzen beherberge und betüddele. Gegen Unterhaltung durch Katzenrettungsvideos spricht ethisch nichts, solange maus nicht so weit geht, den Katzen sehr stark erweiterte Persönlichkeitsrechte zuzusprechen, denn dann wären die Videos Sozialkitsch und das Vorführen der Katzen unmoralisch. So weit würde ich persönlich nicht gehen. Aber es spricht meines Erachtens viel dafür, sich bewusst zu machen, dass der Konsum von Katzenrettungsvideos der persönlichen Unterhaltung dient. Sich beim Zusehen ethisch gut zu fühlen, ist nicht gut. Dafür sollte maus schon etwas Soziales tun. Gern auch etwas für Menschen.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

“One need not be a chamber to be haunted.”
Emily Dickinson

Kulturgossip: Laut einer Genealogie-Seite – ich hasse weiße Ahnenforschung, aber sie drängt sich im Privaten und Öffentlichen gern ungefragt auf – sind Taylor Swift und Emily Dickinson um sechs Ecken verwandt. Egal, oder? Verwandt wären sie auch ohne irgendeinen englischen Einwandererdude, durch ihre Arbeit.

Etwas Unheimliches: Songzeilen in meinem Unterbewusstsein

Beim Wiederhören mancher Songs, denen ich als Jugendliche unweigerlich zuhörte und viele Jaaberer meiner und späterer Generationen auch, weil es Hits waren, die im Radio oder im Urlaub in der Disco gespielt wurden und werden, stehen mir doch manchmal ein wenig die Haare zu Berge. Falls ihr gleich unsicher seid,– es geht in allen drei Beispielen um Frauen.

There are blondes and brunettes just like different cigarettesHey, ho, hey. Hurry up. Don't give up 'til you catch the fox. Hey, ho, hey. Look around like a hound 'til you catch the fox.Won't take no not for an answer. You're my, you're my ballet dancer.

tbc

Rubrikloses

Die Drei hier hätte ich gern in jeder Ampelsitzung beisitzen, mit Koalitionsvertrag? in den Augen.

Drei streng blickende Katzen

Fragt ein Liberaler: Warum sollte es ein Problem sein, wenn KI unreguliert entwickelt und trainiert wird?

Übersetzungs-KI:

Tontopf mit Harpyie: Übersetzte Bezeichnung: Topf mit bösen Weibern
Cringe-Problem der Woche
Bild von Julia Soboleva: Cry Baby. Person mit Maske und Kleid sitzt umgeben von teils menschlich wirkenden schwarzen Katzen auf dem Sofa

Ich habe im Internet diesen Print von Julia Soboleva gekauft, den ich vorher schon sehr lange angeschmachtet hatte. Jetzt traue ich mich nicht, das Bild hier, im doch sehr katholischen Ort, zum Rahmen zu geben, weil ich fest damit rechne, dann für immer »die deutsche Satanistin« zu sein. Andererseits: besser als »die deutsche Faschistin«. Stay tuned.

Präraffaelitische Girls erklären

Gemäldeausschnitt. Melancholisch blickende Person. Hinzugefügter Text: Demokratie ist diese zurückhaltende Freundin, 
 von der du erst, wenn du sie verloren hast, 
 weisst, dass sie deine beste Freundin war.

Maus sieht sich. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

Das von mir eingefärbte Coverbild zeigt ein 1870 entstandenes Selbstporträt Marie Bracquemonds (1840–1916), die zu den bedeutendsten impressionistischen Maler*innen gehört. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere gab sie die Malerei auf, weil ihr malender Mann, der sie zunächst künstlerisch gefördert hatte, ihren Stil nicht mochte und allem Anschein nach auch ihren Erfolg nicht. Immerhin wurde ihr Wikipedia-Artikel (Öffnet in neuem Fenster) bislang nicht gelöscht. Hausaufgabe: Merkt euch ihren Namen: Marie Bracquemond.

Wenn ihr diese Folge mochtet, teilt sie gern in sozialen Medien. Empfehlt »Umsehen lernen« Freund*innen, die Freude daran haben könnten. Vielleicht schließt ihr auch mal für eine Weile ein Bezahl-Abo (Öffnet in neuem Fenster) ab, das wäre nett. Kündigungen werden, versprochen, niemals persönlich genommen, außer, ihr verbindet sie mit wütender Mail. (Noch nicht vorgekommen.) Macht euch frei von der Vorstellung, dass ihr alles lesen müsst, was ihr bezahlt. Mit eurem Geld ermöglicht ihr, dass vielfältig publiziert wird, das zählt, weil es demokratiestärkend ist. Ihr lest, was und wann ihr wollt.

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