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Auf dem Weg

Migration und Utopie/La Rentrée/Was bisher geschah/Nigel Slater

Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden jedem einzelnen Menschen derart umfassende Grundrechte zugesprochen. Und nie zuvor gab es erstens so viele Menschen die sich, zweitens, ihrer Rechte auch bewusst sind.

Leider liegt die Durchsetzung und Überwachung dieser Rechte in der Zuständigkeit der Nationalstaaten. So ein Staat, sei er noch so groß und kultiviert, kann aber kippen - das Deutschland von 1933 ist das beste Beispiel. Derzeit schwindet die Zahl der akzeptablen Regimes. Also machen sich die Menschen auf den Weg. Um das Leben zu führen, auf das sie ein Anrecht haben.

Migration ist nicht neu, aber ihre derzeitige und zu erwartende Dimension schon. Der britische Publizist Ben Judah hat im letzten Jahr unter dem Titel This is Europe (Öffnet in neuem Fenster) ein Sachbuch über Migranten in Europa veröffentlicht. Er versammelt Portraits voller Präzision und Humanismus, hinterfragt dabei die komplexen, oft unmenschlichen und wenig reflektierten Bedingungen, unter denen diese Menschen klar kommen müssen.

Was er auch sagt: Europa verändert sich. Und er vermisst eine liberale und humanistische Reflektion darüber, wo die Reise hingeht. Die rechte Warnung vor einem Bevölkerungsaustausch, basierend auf le grand remplacement, der mörderischen Verschwörungstheorie von Renaud Camus, ist auch darum so erfolgreich, weil es kein anderes Deutungsangebot gibt. Sie wird auch von Götz Kubitschek und Björn Höcke propagiert, es ist sogar ihr einziges Thema.

Vor einigen Jahrzehnten kursierte noch der Begriff der multikulturellen Gesellschaft, aber seitdem kam nichts Neues. Daher gerät eine liberale Politik bei jedem Attentat, jedem Verbrechen in die Defensive. Die Abschiebungen einiger Straftäter nach Afghanistan ist typisch für eine hilflose Symbolpolitik. Ebenso irreführend ist die Annahme, es werde keine islamistischen Terror mehr geben, wenn alle Abschiebekandiaten wieder im Ursprungsland sind.

Man muss die Themen trennen.

Migration ist ein Thema wie der Wohnungsbau oder die Kindererziehung: Meist geht alles gut, manchmal nicht – man muss sich eben kümmern. Niemand fordert eine Verringerung der Geburtenzahl, weil der neue Mensch ja zu einem Massenmörder heranreifen könnte. Ein neues Haus könnte das Heim von Killern werden, im Keller könnten sie Drogen horten und Geiseln halten. Dennoch lässt man beides nicht, sondern organisiert alles so, dass gute Bedingungen entstehen und die Gesetze eingehalten werden. Übrigens mit Erfolg: Nie gab es weniger Gewalt und Verbrechen als in unserer europäischen Gegenwart.

Der Universalismus, der Migration als ein Mittel zur Realisierung garantierter Rechte anerkennt, muss auch das politische Versagen der Regierungen der Ausreiseländer anprangern. Man kann ja schon mal fragen, anklagen, was in so vielen Ländern los ist, damit die Leute ihre Heimat hinter sich lassen. Das führt bald auch zur außenpolitischen Scheinheiligkeit von Europa und den USA, die in endloser Gier nach billiger fossiler Energie alle nichtfinanziellen Werte vergessen haben und sich im Great Game der Ressourcenerwerbs selbst verstrickt und gefesselt haben.

Migration ist nicht per se links oder rechts, gut oder schlecht, sondern ein Phänomen der gegenwärtigen conditio humana. Sie ist ein Krisensymptom für viele Länder, in denen die herrschenden Männer ihre Bürgerinnen und Bürger verraten. Mittelfristig wird es nicht anders gehen, als übernationale Institutionen zu erfinden oder zu stärken, die die Menschen- und Bürgerrechte auch dort garantieren, wo sich die Putins und Assads dieser Welt den Staat zur Beute gemacht haben. Das wäre der Weg zu der schon von Willy Brandt beschworenen Weltinnenpolitik. Sie ist die logische Folge der universellen Menschenrechte des 18. Jahrhunderts. Heute klingt das nach Utopie. So wie, in der Zeit der Jugend meiner Großeltern, die Idee einer Europäischen Union.

Auch im Sommer durfte ich mit dem agilen und inspirierenden Team unseres Wondery-Podcasts Was bisher geschah neue Folgen aufnehmen. Es ist ein großer, herzerwärmender Erfolg – übrigens ist es ein Podcast den besonders oft Paare zusammen hören, etwa auf langen Reisen.

In der Pipeline ist unter anderem eine Folge über die Geschichte des Saarlandes, die nach jetziger Planung am 17.September kommt. Und am 11. Oktober sind Jochen Telgenbüscher und ich live auf der Bühne in Berlin, bei Beats and Bones.

https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/museum/veranstaltungen/beats-bones-podcast-festival-wissenschaft-auf-die-ohren (Öffnet in neuem Fenster)

Ich empfehle auch die bereits veröffentlichten Folgen, deren Relevanz immer brisanter wird, etwa unser Dreiteiler über Leben und Schrecken von Stalin:

https://wondery.com/shows/was-bisher-geschah/episode/15099-stalin-13-vom-priesterschuler-zum-revolutionar/ (Öffnet in neuem Fenster)

Morgen um acht Uhr beginnt in Frankreich eine wichtige Jahreszeit, die Rentrée. Es handelt sich um die kollektive Sublimierung einer elterlichen Neurose, nämlich den Start eines neuen Schuljahres zu schaffen. Typisch für jene Tage sind dramatische Liveschaltungen der Nachrichtensendungen zu den Supermarktregalen, wo genervte Mütter vorrechnen, was in diesem Jahr die Clairefontaine-Hefte für die lieben Kleinen kosten. Und irgendwo in den Tiefen der Republik gibt es immer ein Collège, wo die Fenster kaputt sind und die Heizung defekt, so dass die ganze Nation bangen muss, ob das Schuljahr wirklich beginnen kann.

Ich mochte die rentrée auch als Schüler, bekam damals immer neue Klamotten und Schreibwaren, sicher rührt meine Obsession mit Stiften und Notizbüchern aus der Nostalgie nach dem Fieber und dem Versprechen des neuen Schuljahrs.

Womöglich wird es in diesem Jahr zur Rentrée nicht nur neue Hosen, sondern auch eine neue Regierung für Frankreich geben - ich würde auf die Berufung von Bernard Cazeneuve als Premierminister wetten. Der gute Mann darf sich dann, ratloser Artist unter der Zirkuskuppel, damit abmühen, eine französische Form der großen Koalition zu bilden. Aber die Rentrée lenkt die Leute erstmal ab.

Die Mythen und Komplexe, die in Frankreich mit dem Thema Schule verbunden sind, nimmt dieser schöne Spielfilm mit viel Humor auseinander – er ist schon einige Jahre alt, aber die Themen sind nach wie vor aktuell. Eine schöne Einstimmung in die Saison der rentrée.

https://www.arte.tv/de/videos/117116-000-A/monsieur-foucault-und-seine-schueler/ (Öffnet in neuem Fenster)

Es gibt Tage, da stellt sich bei mir der Impuls ein, gefüllte Paprika zu kochen. Manchmal ist es ein Zeichen der Ratlosigkeit, manchmal der Freude, aber meistens weiß ich nicht, wie und warum dieser Entschluss sich bildet. Dieses Phänomen gibt es bei mir schon lange. Sogar als Student bereitete ich gefüllte Paprika zu und lud dann Leute ein. Damals konnte ich es nicht besonders gut und die berechtigte Frage stand im Raum, was das alles soll. Nun freue ich mich, dass auch der erratische und rätselhafte Nigel Slater sich dieses Rezepts annimmt und hilfreiche Tipps gibt. Erst blanchieren, dann schmoren – darauf bin ich irgendwann auch gekommen, aber viele, viele Essen wurden von mir serviert, in denen das nicht so geklappt hat. Sorry Leute.

https://www.theguardian.com/food/article/2024/aug/25/nigel-slater-recipes-for-pork-and-peppers-and-potatoes-dill-and-mustard (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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