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Ein historischer Sommer

Die Älteren mögen sich noch an die Europawahl 2024 erinnern. Das war erst vor einer Woche, aber noch die gute alte Zeit. Heute ist die Lage ungleich dramatischer. Ich neige nicht zu Schwarzmalerei und Panikmache, aber mehr noch als der Zuversicht fühle ich mich der Wahrheit verpflichtet. Wie stehen die Dinge?

Nach einer im kleinsten Kreis beratenen Entscheidung hat der französische Präsident das Parlament aufgelöst und Neuwahlen anberaumt. In drei Wochen hat Frankreich neue parlamentarische Mehrheitsverhältnisse und dementsprechend eine neue Regierung. Gewählt wird in zwei Wahlgängen. Durch das Mehrheitswahlrecht hat Macrons eigene Partei, Renaissance, kaum Chancen in die Nähe einer Mehrheit zu kommen. Seine Amtszeit dauert noch bis 2027 an, sein politisches Projekt ist beendet. Immerhin: Er behält so lange noch die Kontrolle über den Sitz im Sicherheitsrat und die Armee.

Um den Regierungsauftrag bewerben sich Front Populaire, ein linker und ökologischer Zusammenschluss und das rechtsextreme Rassemblement National. Letztere bereiten sich seit Jahren darauf vor und sind jeden Tag im Fernsehen. (Rassemblement National ist kaum irgendwo in der Verantwortung, ihr Biotop ist das Fernsehstudio. Ihre Wähler sind Menschen, die viel Zeit haben und sehr viel Fernsehen schauen.)

Denkbar ist eine Regierung aus Linksfront und Macron-Abgeordneten, um die Rechten zu verhindern. Aber es wäre eine Regierung der Wahlverlierer. Die Dynamik begünstigt derzeit die RN. Der Präsident muss, wenn das Ergebnis den Prognosen ähnelt, Jordan Bardella zum Premierminister ernennen. Zum ersten Mal seit Philippe Pétain wäre die extreme Rechte in Frankreich an der Macht.

Mildernde Umstände sind nicht zu erwarten. RN hat versprochen, die europäische Union lahmzulegen und alles, was ihnen migrantisch vorkommt oder queer oder sonstwei niht passt zu drangsalieren. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird privatisiert, die Gesundheitsversorgung soll dann Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit nehmen und Migranten schlechter behandeln als die anderen. Wie die britischen Tories, die ihren Brexit ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen haben, wird der Rassemblement National seine Versprechen umsetzen. Marine Le Pen wird eine starke Frau in Europa, die deutsch-französischen Beziehungen sind ihr Schnuppe. Allenfalls Alice Weidel und Sahra Wagenknecht könnten sich ihrer Aufmerksamkeit erfreuen. Putins Investitionen hätten sich ausgezahlt.

Historikerinnen und Historiker werden eines Tages über diesen Sommer dicke Bücher schreiben.

Spontan würde ich drei Ursachen ins Auge fassen, um den Erfolg der radikalen Rechten zu erklären: In der Frage der Migration fehlt eine vernünftige und humanistische Erzählung. Regierungen aller Couleur haben stets weniger Zuwanderung und mehr Abschiebungen versprochen, als handele es sich um ein Übel an sich. Le Pen hat die meisten Wählerinnen und Wähler in ländlichen Gebieten, wo keine Migranten hinkommen. Aber der Diskurs über die migrantische Gefahr, der kommt dorthin. Die rechte Theorie über den drohenden Bevölkerungsaustausch, formuliert von Renaud Camus, von der ich so oft warnend geschrieben habe, hat nie eine substantielle Antwort bekommen. Man hielt sie für abwegig, also schwelt sie im Verborgenen weiter. Heute besteht das Umfeld von Bardella - ebenso wie das Umfeld von Björn Höcke übrigens - aus Männern, die diese Theorie vertreten und propagieren.

Auf den existentiellen Feldern Arbeit und Wohnen herrscht zu viel Unsicherheit oder einfach das Recht des Stärkeren. Kein Arbeitsplatz ist wirklich sicher, lebenslange Weiterbildung ist nötig, das stresst. Die Mehrheit der Wähler der Rechten haben keinen oder einen niedrigen Schulabschluss. Sie erfahren keinen Respekt, sondern hören nur, dass sie sich mehr anstrengen müssen. In der Macron-Regierung gibt es niemanden mit solch einer Biographie, niemanden ohne Hochschulabschluss. Genau so beim Wohnen: Grund und Boden ist hemmungsloser Spekulation überlassen worden. Im Zentrum von Paris gibt es ganze Straßenzüge, die leer stehen, weil die Besitzer sie nur als Anlageobjekte erworben haben. Wo sich die Menschen ihre Miete leisten können, fühlen sie sich unsicher oder weit vom Schuss.

Dann ist da noch das Geld. Frankreich erzielt hohe Gewinne durch die Luxusindustrie, aber die Französinnen und Franzosen können sich das nicht mehr leisten. Frankreich ist für seine Bewohner zu teuer geworden. In der Weingegend Médoc werden immense Summen umgesetzt, werden Marken gepflegt und Weine in die ganze Welt verkauft. Es ist zugleich eine der ärmsten Gegenden des Landes. Die Finanzplaner der Châteaux haben die Betriebe optimiert, die Arbeiter werden nicht mehr direkt angestellt, sondern von Dienstleistern ausgeliehen. Die Dörfer dort sind von Armut gezeichnet. Vor einigen Jahren kam Marine Le Pen ins Médoc - traditionell eine linke Gegend - und stellte fest, dass von den hier erwirtschafteten Reichtümern nichts an die Menschen vor Ort geht. Und damit hatte sie einen Punkt. Zum ersten Mal gewann ihre Partei dort den Wahlkreis.

Alle vernünftigen Kräfte Frankreichs wehren sich mit Händen und Füßen gegen den Sieg der Rechten, aber die Zeit ist arg knapp. Alles andere als eine Regierungsbildung durch Jordan Bardella zur Vorbereitung einer Präsidentschaft von Marine Le Pen im Jahr 2027 wäre ein Wunder.

Der Ernst der Lage wird in diesem dramatischen Interview deutlich, dass der Sozialdemokrat Raphael Glucksmann, ein besonnener und vernünftiger Mann, am Freitag gegeben hat.

https://www.youtube.com/watch?v=NzXBumC2jXA&t=93s (Öffnet in neuem Fenster)

Die schönen, die utopischen und kreativen, besten Seiten Frankreichs dürfen darüber nicht in Vergessenheit geraten. Sie sind die Ressource, um durch finstere Zeiten zu kommen. Ich musste in diesen Tagen an den letzten Film der großen Agnès Varda denken, die durch das ländliche Frankreich führte. Er lohnt die Investition, man kommt auf andere Gedanken und gute Laune macht er auch.

https://www.youtube.com/watch?v=j_OPqzCqOs8 (Öffnet in neuem Fenster)

Aus unerklärlichen Gründen befinden sich in unserem Kühlschrank immer sehr viele Zitronen. Ich möchte niemanden damit beschuldigen, schon gar nicht meine Frau, aber ich kaufe die nicht.Wenn ich den Einkauf einräume, lege ich oft ein volles Netz Zitronen auf mehrere andere Netze Zitronen. Keine Ahnung, wie das kommt. Jedenfalls bin ich immer auf der Suche nach Rezepten mit Zitrone und fand dieses:

https://www.theguardian.com/food/article/2024/jun/13/yotam-ottolenghi-lemon-recipes-hong-kong-chicken-bulgur-salad (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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