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Geschmacksfragen I

Das Essen und das Kochen sind so wichtige Tätigkeiten im Leben. Trotzdem messen ihnen viele von uns entweder zu wenig oder zu viel Bedeutung bei

Jacob van Hulsdonck (Flemish, 1582 - 1647): Still Life with Lemons, Oranges, and a Pomegranate, about 1620–1630
Oil on panel, The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, 86.PB.538

Dear all,

in den vergangenen Wochen habe ich eine kleine Kolumne im Deutschlandfunk bestritten, in der es ums Essen und Kochen ging. Die Resonanz war so groß, dass ich beschlossen habe, euch in den nächsten Wochen und Monaten einige der der Kolumne zugrundeliegenden Texte zu schicken, inklusive der Rezepte, die ich darin vorstelle. Bisher gibt es die Folgen nur als Audio-Format. Für diejenigen unter euch, die lieber etwas hören, sind auch die Links zu den einzelnen Folgen eingefügt.

Die Kolumne war auf acht Folgen begrenzt, aber gerade denken die Redaktion und ich über eine Fortsetzung nach. Ich hoffe, dass ihr mit den Texten etwas anfangen könnt. Denn das Essen und das Kochen sind so wichtige Tätigkeiten im Leben. Trotzdem messen ihnen viele von uns entweder viel zu wenig oder viel zu viel Bedeutung bei, stopfen nachlässig etwas in uns hinein oder entwickeln Obsessionen, die uns zum Teil jahrelang begleiten. Vielleicht kann das anders werden, wenn wir bewusster über diese Tätigkeiten nachdenken, sie psychisch und emotional durchdringen, uns tatsächlich auch mit ihrer gelebten Praxis beschäftigen. Vielleicht gelingt uns dann, was uns häufig schwerfällt: Das Essen und das Kochen wirklich zu genießen.

Alles Liebe,

Daniel

Geschmacksfragen I: Sinn und Spaghetti 

Zum Anhören der Folge hier klicken (Opens in a new window)

Ich habe lange überlegt, warum ich so gerne koche. Ich habe schon als Kind aufmerksam meiner Mutter über die Schulter geschaut, wenn sie Kartoffeln schälte, Wirsingkohlrouladen anbriet, Salzgurken einlegte oder Marmeladen einkochte. Später habe ich fast schon religiös Rezepte aus Kochbüchern nachgemacht, etwa dem Larousse Gastronomique. Die französische Küche erschien mir lange als die schönste von allen. Als ich in New York wohnte, habe ich sogar ein paar Jahre lang vom Kochen gelebt. Die Freundin eines Freundes, fragte mich, ob ich für sie und ihre Familie kochen könnte. Sie lebte in der Upper East Side, war sehr reich und sehr beschäftigt und empfahl mich unter ihren ebenso reichen und ebenso beschäftigten Freundinnen weiter. Was dazu führte, dass ich binnen kurzer Zeit auch von ihnen angestellt und „private chef“ genannt wurde und mein damals noch recht brotloses Schreiben finanzieren konnte.

Folgt man einer Reihe von Kochbuchautor*innen und dem Psychoanalytiker Donald Winnicott geht es beim Kochen vor allem darum, seine Kreativität auszuleben. Winnicott sprach sich unter anderem deshalb gegen das Benutzen von Rezepten aus, da diese die eigene Entfaltungskraft hemmen würden. Ich glaube, dass das Unsinn ist. In Rezepten versammeln sich das praktische Wissen, die Sehnsüchte und die Weltsicht vieler Generationen vor uns. Sie sind so reichhaltige, so prall mit Leben gefüllte Texte, die bei jeder Weitergabe wie Palimpseste mal erweitert, mal umgeschrieben, mal neu interpretiert werden. Sie sind die Spuren einer lebendigen Geschichte, die man nur dann wirklich entschlüsseln kann, wenn man sie nachkocht. Es gibt einen Grund, warum wir seit Jahrhunderten Sauerteigbrote, Sauce Bernaise oder Penne all‘Arrabbiata zubereiten. Ihre Rezepte sind Anleitungen für ein gelungenes Leben. Anleitungen dafür, wie man trotz aller Widrigkeiten von Zeit und Alltag Momente der Schönheit und des Genusses erfährt. Sie sind Anleitungen zum kleinen Glück.

Immer wenn ich in New York von den langen Tagen in den fremden, großen Küchen heimkehrte, war ich körperlich erschöpft, geistig aber seltsam stimuliert. Nachdem ich meine Sachen abgelegt, mein Honorar im Schreibtisch verstaut und mich unter die Dusche begeben hatte, sagte ich mir: This was time well spent. Das war Zeit, die ich auf eine gute Weise verbracht habe. Eine sinnvolle Weise. Und bis heute glaube ich, dass das die beste Erklärung dafür ist, warum das Kochen mir und anderen Menschen so viel bedeutet. It’s time well spent. Es ist eine Tätigkeit, die ein Gefühl von Sinn verschafft. Ein Sinn, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ein Sinn, den man mit all seinen Sinnen erfahren kann.

Ein Rezept, das diese Sinnhaftigkeit am reinsten für mich zum Ausdruck bringt, sind Spaghetti al Limone. Zum ersten Mal bin diesem Rezept ich durch den italienischen Lebensgefährten einer Freundin begegnet. Aber Variationen davon werden seit Jahrhunderten gekocht. Rezepte dafür sind in vielen Kochbüchern zu finden. Dies ist mein kleines Palimpsest.

Am besten nimmt man dafür Limu-Shirin-Zitronen. Die stammen eigentlich aus dem Iran und sind eine Zufallskreuzung aus einer Zitrone und einer Bitterorange. Leider gibt es sie immer nur ein paar Wochen lang. Den Rest des Jahres kann man dafür auch kleine reguläre Zitronen verwenden. Zuerst kocht man 125 Gramm Spaghetti. Sie wissen, wie. Währenddessen verrührt man den Abrieb und den Saft von zwei Zitronen mit 75 Gramm feingeriebenem Parmesan und 75 ml gutem Olivenöl, etwas Salz und Pfeffer zu einer Paste. Die heißen, tropfnassen Spaghetti vermischt man dann einfach mit dieser Paste. Wenn nötig verdünnt man das Ganze noch mit etwas Pastawasser. Schließlich hebt man noch eine Handvoll gehackter Petersilie oder Rucolablätter unter - et voilà. Das Rezept reicht für zwei vornehm Essende … oder eine sehr gierige Person.       

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